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Das Geheimnis des siebten Hauses


Moritz Leuenberger - 50 Jahre Verkehrshaus Luzern, Ansprache, 4. November 2008

Seit langem freuen wir uns ungeduldig auf das 50-Jahr-Jubiläum des Verkehrshauses, und wir mochten nicht mehr länger warten. Auch das Verkehrshaus selber nicht. Es beschleunigte kurz entschlossen die Zeit: Es taufte das neue Eingangsgebäude auf den Namen „FutureCom", was deutsch heisst: Zukunft komm! Siehe da, wie immer, wenn das Verkehrshaus ruft, wird gehorcht. Die Zukunft ist schon da, und so feiern wir heute das 50-Jahr-Jubiläum bereits 49 Jahre nach der Gründung des Verkehrshauses. 49, sieben mal sieben, das Quadrat der Glückszahl 7. Wir feiern heute nicht nur ein Haus, wir feiern sieben Häuser. (Deshalb haben Sie einen Bundesrat eingeladen, der sich in glücklichen Siebnerkombinationen auskennt.)

Die Ungeduld, mit welcher das Jubiläum um ein Jahr vorverlegt wurde, wohnt in uns allen. Mobilität und Verkehr sind schon immer Ausdruck unserer Rastlosigkeit und Ungeduld. „Cette vie est un hôpital où chaque malade est possédé du désir de changer de lit." (Baudelaire) »

Dieses Haus zeigt uns diese geheimnisvolle Ungeduld. Es ist als erstes

... ein Haus der Ungeduld.

„Ich sitze am Strassenrand

Der Fahrer wechselt das Rad.

Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.

Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.

Warum sehe ich den Radwechsel

Mit Ungeduld?"

Wir erinnern uns an Bertolt Brechts Gedicht („Der Radwechsel").

Woher kommt sie denn, diese menschliche Unrast? Woher kommt dieser menschliche Urdrang, stets schneller voranzukommen, woher der Traum in Grimms Märchen von Siebenmeilenstiefeln?

Die griechische Mythologie führte unseren Drang nach Beschleunigung auf etwas Göttliches zurück, nämlich eine göttliche Fehlleistung:

Der griechische Gott Epimetheus, bekannt für seine Nachlässigkeit, tat zunächst Gutes und beschenkte alle Tiere mit Fähigkeiten. Bei Platon lesen wir: „Die einen versah er mit Stärke ohne Schnelle, die Schwächeren stattete er aus mit Schnelle. Die einen waffnete er, den andern gab er waffenlosen Wuchs (...)."

Aber: Als das Menschengeschlecht an die Reihe kommt, hat Epimetheus keine Fähigkeiten mehr zu vergeben.

Rast- und ratlos sass der Mensch da: Gehen und rennen kann ich zwar, aber der lahmste Gaul läuft mir um die Ohren, schwimmen kann ich auch, bloss vorwärts komm ich kaum dabei, und fliegen? -, ach wie sehr beneid ich die Vögel.

Von Ungeduld zerfressen, erhob sich der Mensch und beklagte sich bei Epimetheus: „Nichts hast du mir gegeben, wie soll ich so mein Leben leben und meine Träume verwirklichen?"

Epimetheus erkannte seine Ungerechtigkeit und wir lesen bei Platon: „Von Ratlosigkeit ergriffen, schenkt Epimetheus den Menschen die technische Intelligenz."

Den Rest der Geschichte kennen wir: Dank seiner Intelligenz stieg der Mensch zuerst aufs Pferd, baute Boote, dann erfand er das Rad, baute Kutschen und Strassen, dann Lokomotiven, Autos und Flugzeuge, bis also genug Verkehrsmittel da waren, um endlich das Luzerner Verkehrshaus gründen zu können.

Der nachlässige Epimetheus ist also der eigentliche Gründervater des Verkehrshauses. Er schenkte uns die Intelligenz, deshalb feiern wir heute als zweites

... das Haus der Intelligenz.

Intelligenz bedeutet u.a., abstrahieren zu können, d.h. sich vorstellen zu können, dass etwas auch anders sein könnte, als es ist. Dass Verkehrsmittel über diese Fähigkeit verfügen, ist bekannt, seit ein Tram sagte: Ich bin auch ein Schiff.

Der Mensch erfand immer neue Verkehrsmittel und jedes neue Verkehrsmittel verhalf ihm wieder zu neuen Erkenntnissen. Diese Wechselwirkung brachte Spektakuläres hervor. So reiste Albert Einstein von Aarau nach Bern und ein Kind fragte auf der Bank nebenan: „Wann hält eigentlich der nächste Bahnhof?" So entdeckte Einstein die Relativitätstheorie.

Kindermund tut Wahrheit kund. Das Verkehrshaus ist das Lieblingsmuseum der Kinder. Das liegt auf der Hand: Das erste Wort, das Kinder sagen können, ist „nein", das zweite „Mama", unmittelbar danach folgt „Auto" (und viel später dann „Papi").

Kleine und grosse Kinder haben eine instinktive Freude an allem, was fährt, fliegt und rollt. Kaum können Mädchen gehen, karren sie ihre Puppenwagen unermüdlich vom Kinderzimmer ins Wohnzimmer und zurück, Buben tun dasselbe mit Traktoren und Spielzeugautos.

Früher träumte der Mensch am Fuss von unüberwindbaren Bergen von den Landschaften auf der anderen Seite des Berges. An allen Ufern träumte er von anderen, unbekannten Ufern. Und immer träumte er von der Leichtigkeit und Freiheit des Fliegens über Berge und Täler, Flüsse und Meere, ins Weltall zu anderen Monden und Sternen.

Viele dieser Träume hat der Mensch verwirklicht. Und jedes Mal, wenn der Mensch sich einen Traum erfüllt, beginnt er einen neuen Traum zu träumen. So war es auch mit dem Verkehrshaus. Kaum war es eröffnet, blickte der Mensch zum Mond und dachte, da will ich hin. Und kaum war er mit der ersten Weltraumrakete auf dem Mond gelandet, träumte er davon, wie wunderbare es wäre, jetzt ein MMS zur Erde zu schicken.

Verkehrsmittel sind wahr gewordene Träume, geträumt von kleinen und grossen Kindern. Diese Träume haben ein zuhause, sie wohnen im Verkehrshaus. Wir feiern heute also auch

... das Haus der Träume kleiner und grosser Kinder.

Kleine Kinder haben klare Ansprüche an ihre Puppenwagen, Spielzeugautos und Traktoren: Sie müssen praktisch sein, d.h. gut rollen, und sie müssen stabil sein, am liebsten fast unzerstörbar. Dann erst können Kinder mit ihnen tun, was sie am liebsten tun: in der elterlichen Wohnung Vasen umfahren und frontal mit Stereoanlagen kollidieren.

Diese Ansprüche setzen sich ein Leben lang fort und so ist es denn kein Zufall, dass am heutigen Abend wenige Meter neben dem Verkehrshaus die Premiere des neuen James-Bond-Films gefeiert wird. Ich werde mir also nachher ansehen müssen, wie all diese wunderbaren Transportmittel und Infrastrukturen, die ich politisch erkämpfe und stolz einweihe, zerstört werden, versenkt werden, in die Luft gejagt werden und in Feuer und Flamme aufgehen. Das schmerzt den Verkehrsministers ebenso wie der Verlust einer Vase eine Mutter schmerzt. Am schlimmsten ist es bei Zügen und Schienen. Explodierende Autos interpretiere ich als Beitrag zur Verlagerungspolitik.

Diese Ästhetisierung der Zerstörung ist im Grunde genommen nichts anderes als eine Fortsetzung und Überhöhung der Ästhetik, die wir bei Verkehrsmitteln und bei Infrastrukturen ganz besonders pflegen. In Verkehrshäusern wird deutlich, wie viel Wert wir auf Ästhetik und Design von Verkehrsmitteln legen.

  • Der ganze Stolz, die ganzen Hoffnungen in die Luftfahrt kommen im Corporate Design der Airlines zum Ausdruck:
    • in den betörenden Formen von Flugzeugen wie der Super Constellation, die von Liebhabern als erotischstes Flugzeug aller Zeiten bezeichnet wird;
    • aber auch in den Uniformen der Piloten (früher bezeichnenderweise: „Flugzeug-Kapitäne") und den von renommiertesten Couturiers entworfenen Kleidern der Stewardessen.
  • Ähnliches gilt für den Bahnverkehr:
    • der Orient Express und der Rote Pfeil faszinierten und beflügelten Agathe Christie, Peter Ustinov und Peter Bichsel.
    • Der TGV, von Pininfarina veredelte Hochgeschwindigkeitszüge und in Italien steigern bald neue Schnellzüge in Ferrari-Rot den Puls.
    • Bahnhöfe wurden als Tempel der Mobilität gebaut.
  • Vergessen wir auch den Strassenverkehr nicht:
    • atemberaubende Karosserien,
    • Strassenbrücken als Ausdruck von Ingenieurkunst, einige davon durfte ich einweihen, z.B. die von Christian Menn entworfene Sunniberg-Brücke.
  • Auch die jüngsten Transportmittel, I-Phone, I-Pod, wetteifern mit ihrer äusseren Form um unsere Gunst.
  • Heute feiern wir das neue Eingangsgebäudevon Gigon Guyer, das nahtlos an die Erkenntnis anknüpft, wie wichtig Ästhetik für die emotionale Bindung der Besucher, der Verkehrsteilnehmer ist, und dass sie deshalb ganz bewusst gepflegt werden soll.

Ästhetik weckt Emotionen und Emotionen binden. Wenn la Grande Nation einen train à grande vitesse entwickelt, hat er auch entsprechend auszusehen. Auch die Farbgebung ist von grösster Bedeutung: Stellen Sie sich vor, Sie würden auf einer schönen Bergwanderung das Tü-ta-to eines Postautos hören, sie sähen es um die Kurve kommen - und es wäre nicht gelb, sondern grün oder blau. Entsetzlich wäre das, grässlich, die ganze Wanderung wäre verdorben. Verkehr und Ästhetik sind nicht voneinander zu trennen. Das gelbe Postauto und sein Dreiklang sind gewissermassen Inbegriff des service public und der nationalen Identifikation. Deswegen hat ja Gioachino Rossini, der damals in den Ferien in der Schweiz weilte und fasziniert war von diesem wunderbaren Dreiklang cis-e-a, diesen abgekupfert und in die Ouverture einer Oper genommen, welche er zu Ehren des Schweizeischen Postautos Guglielmo Tell nannte.

Ausgestellt ist diese visuelle und auch akustische Ästhetik hier im Verkehrshaus. Wir feiern heute also auch

... ein Kunsthaus, ein Museum des Designs.

Im Gegensatz zu anderen Kunsthäusern geht dem Verkehrshaus aber alles Elitäre ab. So alltäglich wir uns mit Verkehrsmitteln bewegen, so natürlich ist der Gang ins Verkehrshaus auch für alle, die Museen sonst nur von aussen kennen.

Das Verkehrshaus ist das erfolgreichste und meistbesuchte Museum der Schweiz. Ihm gelingt, wovon andere Museen nur träumen: Menschen jeden Alters und aus allen Gesellschaftsschichten anzuziehen.

Wir feiern das Verkehrshaus heute also in einem ganz besonderen Haus, nämlich in einem

... Volkshaus, und damit in einem Haus der Demokratie.

Unsere Schweizerische Verkehrspolitik ist eine Politik der Demokratie. Das ist sie zunächst deswegen, weil sie zum Grundsatz hat, alle zu bedienen, unabhängig davon, in welchem Gebiet sie wohnen, und alle Täler und alle Städte zu erschliessen und miteinander zu verbinden. Sie ist aber auch eine Politik der Demokratie, weil alle wesentlichen Weichen in Abstimmungen gestellt worden sind. Das gilt auf eidgenössischer Ebene, wo die Alpeninitiative beschlossen wurde, die LSVA, die NEAT, das bilaterale Verkehrsabkommen angenommen wurden und die Avanti-Initiative abgelehnt wurde. Das gilt auf kantonaler und kommunaler Ebene, wo der öffentliche Verkehr weitsichtig gestaltet wird, sodass er heute eine der wichtigsten Attraktionen unseres Landes darstellt. Das Verkehrshaus ist insofern auch ein Mahnmal dafür, dass wir weiterhin in diese Infrastrukturen investieren müssen.

Dazu braucht es die Qualität der Demokratie, die Fähigkeit, den Dialog zu führen und Kompromisse zu finden, wie wir sie beim Infrastrukturfonds gefunden haben. (Gewiss, es gibt faule Kompromisse: Sollen Schnellzüge in Olten halten? Nach langen Debatten der Kompromiss: Die Züge fahren etwas langsamer durch den Bahnhof.)

Aber es gibt auch echte Kompromisse, wie sie gegenwärtig hier im Verkehrshaus geschmiedet werden, am Runden Tisch um die Officine Bellinzona. Dieser Runde Tisch pflegt die Tugend des Gesprächs in der Demokratie. Er hat auf den Pfad des Dialog zurück gefunden und das zeigt uns: Verkehr heisst immer auch Kommunikation. Kommunikation heisst Gemeinsamkeit. Das Verkehrshaus führt uns dies mit seinem neuen Konzept eindrücklich vor Augen.

Die zum Teil sehr heftigen demokratischen Auseinandersetzungen um die LSVA, um die Alpeninitiative oder die Abstimmung über das Gurtenobligatorium weisen aber auch auf die schädlichen Auswirkungen des Verkehrs hin:

Unsere Mobilität hat auch Schattenseiten, und sie zeigt uns als sechstes Haus

... ein Haus der langen Schatten.

Diese Schatten weisen in die Vergangenheit: In der Schweiz starben in den letzten 50 Jahren 57'000 Menschen durch Verkehrunfälle. Das entspricht fast genau der Einwohnerzahl der Stadt Luzern (Ende 2007 58'000 Einwohner). Zwar sterben heute fast fünfmal weniger Menschen durch Verkehrsunfälle als z.B. 1971 (1773 Opfer). Immer noch ist aber jedes Opfer ein Opfer zu viel (2007: 384 Tote). Mein Departement hat deshalb zur weiteren Erhöhung der Verkehrssicherheit ein umfassendes Massnahmenpaket erarbeitet - Via Sicura - es geht dieser Tage in die Vernehmlassung.

Die menschliche Mobilität wirft aber auch Schatten in die Zukunft: Der Verkehr ist mitverantwortlich für die mittelfristig grösste Bedrohung überhaupt, die Klimaerwärmung (35% des CO2-Ausstosses stammen aus dem Verkehrsbereich). Welche Folgen hat das 2000-Dollar-Auto der Firma TATA?

Beschränken wir uns heute darauf, diese Schatten- und Kehrseiten nur zu erwähnen. An Jubiläen gilt in Anlehnung an Epimetheus das Gebot der Nachlässigkeit. Man verteilt so viel Gutes, bis man nichts mehr anderes zu verteilen hat.

Aber wir wollen es nicht ausblenden: Wir opfern der Mobilität mit Biotreibstoffen Nahrungsmittel, wir opfern ihr das ökologische Gleichgewicht und fördern den Klimawandel, wir opfern ihr Menschenleben.

Deswegen halten wir inne und fragen uns in diesem Haus, in einer Immobilie also, nach dem Sinn der Mobilität:

Wozu dieser Drang? Was bringt er uns? Wie viele Milliarden für welchen Zeitgewinn? Was ist der Sinn unseres Bewegungsdranges, was ist der Sinn des Lebens? Das Wort Sinn geht auf die indogermanische Wurzel „sent" zurück: „Sent" bedeutete „gehen, reisen, fahren", oder auch „eine Fährte suchen, eine Richtung nehmen". Noch heute sprechen wir deshalb vom Uhrzeigersinn. Ist eben nicht gerade der Sinn unseres Lebens, dass wir gehen, reisen, fahren, uns bewegen wollen, dass wir überall sein wollen, dass wir miteinander kommunizieren? „Wenn ich ein Vöglein wär, flög ich zu dir." Ist nicht der Sinn des Lebens, diese unsere Sehnsucht nicht nur zu träumen, sondern sie zu verwirklichen?

Bertolt Brechts Gedicht der Ungeduld, an welches wir zu Beginn denken mussten, ist eine Abwandlung eines sehr viel älteren Gedichts:

Ich komme, ich weiss nicht, von wo?

Ich bin, ich weiss nicht, was?

Ich fahre, ich weiss nicht, wohin?

Mich wundert, dass ich so fröhlich bin.

Fröhlichkeit ohne Grund. Seit Jahrtausenden bleibt die Ursache solcher Glücksgefühle ein rätselhaftes Geheimnis. Sie haben mit dem Sinn des Lebens zu tun, das heisst mit reisen, mit fahren. Vielleicht finden wir die Antwort auf dieses Geheimnis hier, im siebten Haus, denn dieses Haus ist auch

... ein Haus des Glücks.

Treten wir also ein in das Verkehrshaus. Das Glück werden wir vielleicht nicht gerade finden, aber wenn wir es suchen, dann findet es vielleicht uns.