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Wie kommt der Staat dem Antisemitismus bei?


Wie kommt ein liberaler Staat dem Antisemitismus bei?

 

Ansprache beim Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund SIG

16. Mai 2012

Moritz Leuenberger

 

 

 

Ich danke Ihnen für die Einladung und dafür, dass Sie sich einem

alt BR anvertrauen. Das ist ein Ausdruck, unter dem ich immer noch ein wenig zusammenzucke. So angesprochen fühle ich mich wie eine ausrangierte Lokomotive auf dem Abstellgleis. Aber ich muss lernen, der Wahrheit in die Augen zu blicken und das geschah mir, als ich mit Ihrem Präsidenten Herbert Winter die vielen bisherigen Begegnungen mit dem SIG durchging, hier in diesem Saal der ICZ, in der Synagoge Basel an einer Taufrede für Michael Kohn. Es ergab sich eine kurze Diskussion, die mich stutzig machte.

 

Als ich ihm nämlich sagte, „Ja, an der Delegiertenversammlung des SIG in Endingen war ich ja auch,“ korrigierte er mich schonend, „nein, das war Doris Leuthard.“ Kurzes Pingpong, „es war 2008 und es war Leuthard!“ beharrte Winter. „Ich weiss, doch, dass ich bei Euch war. Vorher war ich bei Fidel Castro und musste dort früher gehen und Fidel war ja noch betupft deswegen.“ Am Schluss stellten wir fest: Ich war zehn Jahre vor Doris Leuthard in Endingen, nämlich schon 1998, also im letzten Jahrhundert, als Herbert Winter noch jung und unschuldig war.

Da sah ich alt aus und fühle mich auch so – im Gegensatz zu Castro der jung gebliebenen ist und fidel (darum heisst er ja auch so).

 

Meine Damen und Herren

 

Vor wenigen Wochen verlangte ein EU Vertreter von der Schweiz verstärkte Massnahmen und Normen gegen Rassismus. Ausschlaggebend waren insbesondere SVP Plakate, die nicht nur ihn schockierten, sondern zahlreiche Besucher unseres Landes – und auch die aufgeklärten Bürger, soweit sie nicht schon abgestumpft wurden.

Die ersten Reaktionen in unserem Land auf dieses Anliegen waren wie immer, wenn eine Ermahnung von aussen kommt, die gewohnten Abwehrreflexe:

„Das geht doch die EU nichts an. Bei uns gilt die freie Meinungsäusserung. Und wenn etwas getan werden muss, dann machen wir das schon selber!“

(Sogar den sklavischen Nachvollzug des europäischen Rechts gestalten wir ja vollständig autonom.)

 

Aber wenn wir es „selber machen wollen“, wie tun wir das? Wie kommen wir Rassismus und Antisemitismus bei?

Nützen da Gesetze etwas?

 

Das Gesetz kann die Moral und die innere Einstellung tatsächlich ändern. Beispiel:

-       Fahren in angetrunkenem Zustand ist heute kein Kavaliersdelikt mehr, weil Gesetze geschaffen und durchgesetzt wurden. Sie haben die moralische Einstellung geändert.

-       Das Antirassismusgesetz, für das wir uns gemeinsam einsetzten, kann Verantwortung schärfen.

-       Ebenso die Bestrafung des Leugnens eines Völkermordes: Eine fürchterliche Wahrheit darf nicht ausgeblendet und damit verharmlost werden.

Erst die Gewissheit um den vergangenen Schrecken ermöglicht auch eine Verarbeitung.

Ohne die Anerkennung der Tatsachen ist keine Versöhnung möglich. Ein Rückblick auf vergangene Jahrtausende zeigt: Nach Kriegen waren Friedensschlüsse und Amnesien immer erst nach der Anerkennung der vorangegangenen Fakten dauerhaft.

Dazu gehört die Bestrafung der Verbrecher, auch von Kriegsverbrechern.

Am heutigen Tag lesen und hören wir, dass Mladic endlich vor Gericht in Den Haag steht. Dieser Prozess wird den Bosniern die Verarbeitung der Gräuel in Sarajevo erleichtern.

 

Normen wie das Antirassismusgesetz oder Diskriminierungsverbote, die dann auch durchgesetzt werden, sind also Voraussetzungen für das Zusammenleben der Menschen und für den Religionsfrieden.

 

Aber genügt das? Da lässt zwar mancher wegen drohender Strafverfolgung vielleicht nicht alles über die Lippen, was ihm durch den Kopf geht. Das ist zwar schon mal gut. Aber die innere Einstellung des Rassisten ist ja deswegen keine andere.

Ich erinnere mich an einen Satz eines Lehrers:

„Ich habe gar nichts gegen Deutsche; es gibt auch sehr anständige Deutsche.“

Ähnlich tief lässt der Satz blicken:

„Ich kenne selber einen Juden und der ist sogar ein guter Freund von mir.“

Gesetze mögen verhindern, dass wir Antirassismus hören oder sehen, aber sie verhindern nicht die Gedanken des Antisemiten: Können Gesetze heimlich empfundene oder getuschelte Abneigung ausmerzen? Kann ein Staat eine offene tolerante Haltung der Menschen bewirken?

 

***

 

Einige populistische Bewegungen in Europa wollen das zwar gar nicht, aber die verantwortlichen und gestaltenden Mehrheiten sehr wohl, denn sie wissen ganz genau, dass der Staat darauf angewiesen ist, dass sich die Menschen gegenseitig vertrauen können und dass sie sich mit Toleranz und Liebe begegnen.

 

Deswegen ist das Vertrauensprinzip in der Verfassung verankert.

-       Es gilt der Vertrauensschutz im öffentlichen Recht. Der Staat und seine Behörden selber müssen sich nach Treu und Glauben verhalten. (Roman Polanski wurde nicht an die USA ausgeliefert, weil sich die Schweiz ihm gegenüber insgesamt widersprüchlich, also gegen Treu und Glauben verhielt.)

-       Im Zivilrecht gilt der Grundsatz von Treu und Glauben, der gute Glauben ist zu vermuten.

-       Das Obligationenrecht macht die "guten Sitten" zur Bedingung eines Vertrages, es regelt das Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner. Die Worte sind aufschlussreich: Der Gläubiger „glaubt“ dem Schuldner. Das Wort Kredit kommt von credere, was bedeutet: „vertrauen, jemandem etwas glauben, jemandem etwas anvertrauen.“

-       Im Strassenverkehrsrecht gilt ebenfalls das Vertrauensprinzip. Es allein würde ja eigentlich genügen. Der Strassenverkehr könnte ohne jede Geschwindigkeitsregel auskommen. Man müsste nur festlegen, ob Rechts- oder Linksvortritt gilt.

 

Was im Strassenverkehr möglich wäre, gilt theoretisch für das ganze Zusammenleben der Menschen.

Warum aber beobachten wir das pure Gegenteil, nämlich eine zunehmende Verrechtlichung des Zusammenlebens?

 

Alle beschweren sich über zunehmende Reglementierung. In jedem Wahlkampf wird von allen Parteien, von allen Kandidaten (auch den Sozialdemokraten) die Abschaffung von Normen, das Ausmisten des Gesetzesdschungels propagiert. Und doch nimmt das Paragraphendickicht überall stets zu.

 

Warum?

Erlauben Sie mir einen unwissenschaftlichen Erklärungsversuch eines alt Politikers.

 

***

 

Es wuchsen wohl in jeder Gemeinschaft Erkenntnisse und Einsichten darüber,

-       wie die einzelnen Menschen, die Familien und die Gemeinschaft überleben können,

-       mit welchen Mitteln dazu Krankheiten, Seuchen vermieden werden,

-       und es wuchsen darüber hinaus Erkenntnisse, wie sich die Menschen untereinander verhalten müssen,

  1. damit nicht Neid, Ungleichheit und Unfriede entsteht,
  2. damit also sozialer Zusammenhalt und Stabilität errichtet werden und erhalten bleiben.

 

Solche Erkenntnisse wurden von Generation zu Generation weitergegeben, natürlich nicht nur rational begründet, sondern erzieherisch mit Erzählungen, mit Märchen und Sagen unterlegt und auch mit Mystik verbunden.

 

Die Religionen übernahmen solche Wertvorstellungen und banden die Menschen daran.

 

Gesundheitsregeln wurden so zu religiösen Werten:

-       Hände waschen, ungesundes Fleisch meiden,

-       Ruhevorschriften zur Erholung, auch für den Boden:

-       Sabbat für die Erde, Brachjahr.

Die Erkenntnisse, was eine friedliche Gesellschaft gefährdet,

-       nämlich Armut als Ursache von Neid,

-       mit der Konsequenz von Rebellion und Krieg,

finden sich ebenfalls in den Religionen:

-       Du sollst Bedürftigen Almosen geben,

-       Du sollst ein Feld nicht völlig abernten, sondern die Nachlese für die Armen ermöglichen,

-       Du sollst einen Bettler aufnehmen

-       Du sollst jede zehnte Garbe dem Herrn abgeben,

das heisst dem Tempel geben, von wo dann Witwen, Vaterlose oder Fremde ernährt wurden: (Das war zugleich ein Umverteilen von Reichtum als auch der Aufbau eines sozialen Netzes als auch die Grundlage späterer staatlicher Steuern.)

Was einst mit religiösen Bindungen funktionierte, wird mit zunehmender Säkularisierung, mit der Urbanisierung und der Globalisierung durch andere Normen und in anderer Form substituiert.

Wir sehen dies bei den Diskussionen über das Rauchen oder die Fettleibigkeit. Moralischer Druck ersetzt frühere religiöse Vorschriften und diesem Druck folgt dann die Verrechtlichung.

 

***

 

Solche Verrechtlichungen schreiten unentwegt voran, so sehr sie überall angeprangert und bedauert werden.

Das Leben der einzelnen Menschen kann so zwar gesünder gestaltet, verlängert und die Kosten der Allgemeinheit für sie können verringert werden.

 

Doch kehren wir zurück zum Problem, das uns heute beschäftigt: Auch mit allen nur erdenklichen Normen ist nicht zu erreichen, dass die Menschen einander Vertrauen entgegenbringen, dass sie Treue üben, dass sie tolerant sind.

Mit aller Polizeigewalt kann ein Staat nicht erreichen, dass die Menschen solche Werte wirklich verinnerlichen. Und doch ist er darauf angewiesen, dass diese Werte gelebt werden.

 

Was ist gut, was ist böse?

Das sieht niemand in der Präambel der Bundesverfassung nach, bevor er entsprechend fühlt oder handelt. Das verinnerlicht er, längst bevor er lesen kann.

 

Die Quelle findet sich bei den Menschen selbst, und gespeist wird sie unter anderem aus dem ewigen Grundwasser der Kulturen, Traditionen und der Religionen. Sie haben das Gewissen von Generationen geweckt und geschärft.

Jede Gesellschaft gestaltet die Regeln des Zusammenlebens immer wieder neu. Sie greift dabei zurück auf Traditionen, Religionen. Unser Denken, Empfinden und Handeln nennen wir abendländisches Erbe oder jüdisch-christliche Kultur. In anderen Teilen der Erde gibt es andere Grundlagen.

Der Staat - und mit ihm übrigens auch die Wirtschaft - sind also auf Religion und Kultur angewiesen, damit sie überhaupt funktionieren können. Sie müssen daher diejenigen Institutionen fördern und unterstützen, die sich dieser Aufgabe annehmen. Das sind Kirchen, Religionsgemeinschaften, das ist die Kultur (ein konkreter Anlass war das Festival Culturescapes 2011 in Basel, das Sie durchführten).

Deswegen muss der Staat Kultur und Religion Freiraum gewähren, Autonomie und Entfaltungsmöglichkeiten ermöglichen. Dazu gehören auch materielle Mittel.

 

Das kann bezüglich Kultur konkret etwa bedeuten,

-       dass Sponsoring steuerlich begünstigt wird,

-       dass die nationalen Fernsehanstalten entsprechende Aufträge erhalten. TV und Radio haben nicht nur einen Informationsauftrag, sondern auch einen Kulturauftrag zu erfüllen. Da gehört auch die Unterhaltung dazu. Die frühere Funktion von Märchen, von über Generationen hinweg weiter erzählten Geschichten und Traditionen, übernehmen heute die Massenmedien. Unterhaltung ist eine kulturelle Aufgabe und nicht nur ein samstagabendliches Geblödel. Diese Verantwortung muss der Staat in seinen Konzessionen festhalten.

Bezüglich der Religionen kann das für den Staat etwa heissen,

-       dass Kirchen oder religiöse Gemeinden anerkannt werden,

-       dass ihre Infrastrukturen allenfalls staatlich erleichtert oder unterstützt werden.

-       Das führt sofort in die Auseinandersetzung, welche Religionen anerkannt werden. Der Weg zur vollständigen Anerkennung der jüdischen Religion ist noch lange nicht gegangen, obwohl unser kulturelles Erbe ein jüdisch-christliches ist. Es gab auf diesem Weg auch immer wieder Rückschläge.

-       Darunter fallen dann konkrete Diskussionen darüber, ob juristische Personen Kirchensteuern bezahlen müssen oder nicht (ZH: Jungfreisinnige sammeln für eine entsprechende Initiative)

-       Gestern las ich, Bischof Huonder habe Verständnis für diese Initiative? Was mag der Grund sein? Eine Schwächung der liberalen kirchlichen Kreise? Die Frage der staatlichen Unterstützung von Religionen muss je nach Sichtwinkel verschieden beantwortet werden:

  1. Aus Sicht der Religionsgemeinschaft kann sich die Loslösung vom Staat empfehlen: die Unabhängigkeit soll möglichst gross sein; daher soll alle Abhängigkeit vermieden werden.
  2. Die Sicht des Staates muss aber eine andere sein: Er darf sich nicht gegen eine Unterstützung stellen, um die Freiheit der Kirche oder der Religionsgemeinschaften zu beschränken. Der Staat muss sich eben gerade kritisieren lassen.

-       Beispiele:

  1. Die ungarische Regierung muss Kritik an ihrer Romapolitik durch die Kirche zulassen, sonst verletzt sie die EMRK. Diese Kritik äussert auch die EU und zwar ausdrücklich gegenüber der Regierung. Es dürfen nicht einfach alle Ungarn mit der Politik der aktuellen Regierung gleichgesetzt werden.
  2. Die Schweizer Banken und der Bundesrat mussten sich der Kritik der Kirchen am Bankgeheimnis stellen, einer Kritik, die auch die USA übte. Nicht alle Schweizer sind Banker.
  3. Die israelische Regierung muss sich auch interner Kritik an der Politik im Gazastreifen stellen und wir sollen hier zur Kenntnis nehmen, dass es diese Kritik in Israel gibt. Das verhindert dann auch die Ungerechtigkeit, die israelische Aussenpolitik einer bestimmten Regierung mit dem Judentum gleichzusetzen. Eine solche Kurzformel kann nämlich dem Antisemitismus Auftrieb geben und darum ist diese falsche Gleichung von allen Seiten zu vermeiden. Kritik an der israelischen Aussenpolitik ist nicht antisemitisch.

 

Die gegenseitige Abhängigkeit von Staat und Religion bedeutet für beide, dass sie sich zwar Unabhängigkeit gewähren, sich aber auch gegenseitig einem Dialog stellen müssen.

 

Sonst untergraben beide ihre eigene Berechtigung, ihre eigenen Grundlagen.

 

***

 

Die Freiheit de Religionsgemeinschaft ist also mit der reziproken Verpflichtung verbunden, sie zu nutzen, die Rolle des Gewissens auch wahrzunehmen.

Sie tun das:

-       Die Schweizerische Flüchtlingshilfe durfte, als ich sie präsidierte, in diesem Saal tagen.

-       Der SIG berät Parlamentarier in Asylfragen und mischt sich in die Schweizer Politik ein.

-       Sie haben sich beim Antirassismusgesetz engagiert.

-       Der SIG-Präsident trat soeben das Amt des Vorsitzenden des Rates der Religionen an.

-       Sie betreiben aktiv den interreligiösen Dialog

-       Sie spielen im interregionalen Fussballclub mit und besiegten den FC Nationalrat.

-       Der Beispiele sind mehr.

 

Der Staat seinerseits darf es nicht bei repressiven Normen und blosser Toleranz gegenüber Kultur und Kirche belassen. Er muss sich selber aktiv aufbauend einzumischen und Rahmenbedingungen und Grenzen zu setzen.

 

Dazu gehören auch die Bemühungen, politisch korrekt zu sprechen. Die Bemühungen um political correctness werden zuweilen belächelt und sie werden manchmal auch etwas übertrieben. Aber ich erinnere mich an die unglaubliche, rassistische Bezeichnung von Cornbeef im Militärdienst. Ich erinnere mich an die Einstellung zu „Negern“:

Jazz, das war Negermusik und wir Schüler konterten, die Wiener Walzer kämen von den Zigeunern. So neutralisierten wir rassistische Bemerkungen mit rassistischen Gegenargumenten; das ist natürlich nur eine Scheinlösung.

Aber immerhin: wir sind weitergekommen, wir haben dank den Bemühungen um politische Korrektheit auch Fortschritte gemacht. Gerade deshalb dürfen wir nicht nachlassen.

Wir dürfen es alle nicht zulassen, dass irgendwo, sei es in Schulen, in Radio und Fernsehen ungehindert gegen Menschenrechte, gegen die Freiheit anders Denkender aufgerufen wird. Der Staat und all seine Vertreter, all seine Bürger und Bürgerinnen müssen bei jeder Gelegenheit klar und unmissverständlich gegen Rassismus, gegen die Unterdrückung der Menschenrechte, gegen Antisemitismus Stellung beziehen. Und da sollen die Betroffenen ja nicht in die Rolle des demütigen und stummen Opfers verfallen.

 

Das ist eine alte Erkenntnis, aber sie hat immer noch ihre Berechtigung,

so wie unsere Freundschaft zwar alt, aber immer noch eine herzliche ist, eine „alt Freundschaft“ gewissermassen, die mich mit meinem neuen „alt Titel“ versöhnt - wenigstens in Ihrem Kreis.