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Die politische Dimension der Freundschaft


Zum 125 Jahre Jubiläum des Freien Gymnasiums Basel

Basel, 21. Februar 2014

Sie haben mich eingeladen, weil ich ein Ehemaliger bin, ehemaliger Bundesrat und ehemaliger Schüler der Freien Schule. Was für Sie eine attraktive Kumulation sein mag, bedeutet für mich eher ein Vakuum. Nur noch ehemalig zu sein, verleiht ein Gefühl der Leere und verschwindet erst, wenn von den ehemaligen Zeiten auch etwas geblieben ist. Was ist von diesen ehemaligen Zugehörigkeiten geblieben?

Von meiner Zeit im Bundesrat weiss man es: Ein Loch im Gotthard, ein Wutausbruch auf youtube, sonst nicht viel Handfestes, nicht einmal ein KKW.

Was ist mir von der FES geblieben?

(Ich weiss, Sie heissen anders heute. „Evangelisch“ ist gestrichen, „Schule“ ist durch „Gymnasium“ ersetzt. Schule bedeutet ja eigentlich „Musse“ und das ist in der heutigen strebsamen Zeit kein gutes Leitmotiv. Gymnasium bedeutet demgegenüber „Nacktplatz“ und das ist doch ganz sexy. Für mich bleibt es die FES.)

Was ist geblieben?

Mit elf Jahren zügelte ich mit der Familie von Biel nach Basel und wurde von der bernischen Primarschule direkt ins Humanistische Gymnasium, das HG, gesteckt, in die Elite, wie sich dort jeder Lehrer brüstete. (Das Fach „Singen“ hiess im Stundenplan „Elite“ und wir krächzenden Knäblein im 5. Schuljahr wurden als „Elite der Elite“ verherrlicht...)

Es kam aber nicht gut für mich. Ich hatte einen berndeutschen Akzent mit rollendem R. Der Lateinlehrer korrigierte: „Me sait nit errare humanum est, me sait echaache humanum est. Glassischs Ladiin rollt ds R am Halszäpfli und nid mit dr Zunge. Wär das nit kah, gheert nit zur Elite!“

Aber es lag nicht nur daran. Ich hatte ernsthafte Assimilationsschwierigkeiten, musste zum Schulpsychologen, was ich als unendliche Schande empfand. Schliesslich fand ich in der FES eine neue Heimat. Wir waren Schüler, die entweder aus evangelischer Überzeugung der Eltern hier waren oder Mühe in einem Elitegymnasium hatten.

Dabei war der Stoff, den wir in der FES lernten, nicht so anders als in den staatlichen Schulen. Gelernt haben wir dasselbe, wie die Elite im HG: Im Geschichtsunterricht lernten wir von einem Staatsmann, der hiess Cicero, im Lateinunterricht gab es einen Philosophen, der hiess Kikero. Später zeigte sich: Es war derselbe. Oder wir lernten die reine i- Deklination auswendig: Sitis, puppis, turris, febris, vis securis. Diese Wörter haben auch im Vocativ ein i und nicht etwa ein e. Das nützte mir als Verkehrsminister, der ich auch für die Schifffahrt zuständig war: „Oh Hinterdeck!“ im Vokativ heisst: oh puppi!

Chemieunterricht genossen wir sogar im MNG bei einem sehr berühmten Lehrer. Und die Matura war eidgenössisch anerkannt.

Dennoch verblieben gewisse Minderwertigkeitsgefühle gegenüber den Eliten in den staatlichen Gymnasien. Unser Selbstbewusstsein wurde durch zwei Umstände merklich gehoben: Als der damals weltberühmte Fußballer Pele im Pausenhof der FES Ball spielte, wurde das in den Basler Nachtrichten und der Nationalzeitung mit Foto berichtet. Und: Nur die FES kannte die Koedukation. Darauf waren die Eliten sowohl im Mädchen- als auch im Knabengymnasium eifersüchtig und wir entsprechend stolz. (Der Frauen-Quotenbeschluss, welche Basel vor zwei Wochen für Verwaltungsräte beschloss, ist ein direkter Nachvollzug dieser Pioniertat der FES.)

Die Kultur der Freundschaft

Weil wir aber im Gegensatz zu den Eliteschülern zum Teil etwas langsamer begriffen und uns etwas mühsamer in komplizierte Zusammenhänge hineindenken mussten, waren wir gegenseitig gezwungen, unsere Prozesse des Begreifens, uns gegenseitig zu erklären und zu vermitteln. Indem wir uns den Umgang mit Schwierigkeiten gegenseitig begreiflich machten und das in Worte fassen mussten, wurden wir so mit der Materie selber immer vertrauter. So bildete sich eine Atmosphäre der gegenseigen Hilfe und Unterstützung. Das systematisierten wir mit ausgeklügelter Raffinesse. Wir organisierten Spickzettel für alle oder schrieben in einer Geheimschrift, die in der Pause erklärt wurde, an die Wandtafel den ganzen Stoff der Prüfung, so dass alle es abschreiben konnten. Bewusst verteilten wir Fehler, an jeden Schüler und jede Schülerin einen anderen, damit ja nichts auffiel. Als ich wegen einer Erkrankung für viele Monate ins Spital musste und für ein Jahr ausfiel, tat die Klasse alles, damit ich nicht repetieren musste. Abwechslungsweise wurde ich brieflich und telefonisch über den Stoff der Schule auf dem Laufenden gehalten. Auch gegenüber unserem Mitschüler, der am Samstag aus Glaubensgründen nicht zur Schule kommen konnte, haben wir alles getan, damit er am Montag wieder à jour war und wusste, was wir am Samstag ohne ihn lernten. (Wir waren froh um seine Strenggläubigkeit. Wollte ein Lehrer eine Klausur am Samstag, riefen wir Pfarrersöhne alle: „Wir würden ja gerne, aber am Samstag fehlt der Andreas. Das wäre doch diskriminierend, wenn er keine Klausur schreiben dürfte.“)

Niemand ist gleichgültig geworden. Alle blieben interessiert. Obwohl wir nicht etwa alle im engeren Sinne politisch engagiert waren und obwohl wir auch sehr verschiedene Meinungen vertraten, so haben sich doch alle in irgend einer Weise für öffentliche Anliegen eingesetzt. Auch unser Banker wurde am linken Zürichseeufer Gemeinderat und der Radiologe ist ein grosser Kämpfer gegen Atomkraftwerke geworden. Die Solidarität ist geblieben. Noch heute pflegt unsere Klasse einen Zusammenhalt. Wir erklären uns die neusten  Handys, organisieren Ausflüge und gemeinsame Abendessen. Als einzig wirkliche Treulosigkeit empfanden meine Mitschüler, dass ich nach dem Wegzug aus Basel plötzlich Zürichdeutsch sprach.

Ohne Freundschaft keine Gemeinschaft

Sind das nostalgische und private Rückblicke? Hat mir meine Klasse einfach private Freundschaften vermittelt? Ich sehe mehr. Ich sehe in der Freundschaft, wie sie in einer Schulklasse geformt und gepflegt wird, eine politische Dimension.  

Über die Freundschaft als Urzelle der politischen Gemeinschaft reflektierte Aristoteles. Die Renaissance nahm diese Überzeugung mit Michel de Montaigne und Francis Bacon wieder auf und die Aufklärung erklärte sie mit der weltlichen Trinität von égalité, fraternité, solidarité zum gesellschaftlichen Programm:

Sie erst hält die Polis zusammen. Sie tut dies, so Aristoteles, „weit über den Nutzen und den gegenseitigen Vorteil hinaus. Freundschaft richtet sich nicht nach dem Vorteil des Augenblickes, sondern nach dem, was das Leben als Ganzes  voranbringt, denn“, so Aristoteles weiter, „ohne Freunde möchte niemand leben, auch wenn er die übrigen Güter alle zusammen besäße.“ Wo Freundschaft fehlt, schwindet auch das Politische. Zum selben Ergebnis kommt Peter Bichsel, wenn er über das Verschwinden der Beiz nachdenkt. Mit ihm gehe die Entfremdung gegenüber der Demokratie einher. Der Dokumentarfilm „Zum Beispiel Suberg“ widmet sich ebenfalls dieser Entwicklung: Nehmen die persönlichen Beziehungen im Dorf ab, nimmt auch das Verständnis für die Demokratie ab.  

Ohne Freundschaft keine Selbstbestimmung

Freundschaft ist zudem eine Quelle des Widerstandes. An ihr bricht sich die Macht der Mächtigen. In Schillers Bürgschaft weicht sich das verhärtete Gemüt des Königs gegenüber einer tiefen Freundschaft auf. Es kommt zu königlichen Tränen der Rührung: „Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bund der Dritte.“ An der Solidarität unserer Schulklasse scheiterte manch stures Diktat eines Lehrers. Identität bildet sich am Widerstand. Solchen haben wir immer wieder erfolgreich geleistet. Und wie weiland der Herrscher Dionys wollten denn unsere Lehrer alle auch an die Klassenzusammenkünfte kommen. Wir haben ihre Bitte gewährt und sie in unseren Bund aufgenommen. (Sie sind ja auch gar keine so harten Tyrannen gewesen.)

Ohne Freundschaft keine Demokratie

„Zuhause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland.“ Gotthelfs  Vergleich zwischen Familie und der Gestaltung des Staates wagt einen sehr grossen Schritt und so ganz unmittelbar tut ihn denn auch niemand. Auch Aristoteles sah das so: „ Die Hausgemeinschaft ist zweckorientiert und pragmatisch, während die Polis ein menschliches Kunstwerk darstellt.“ In der Familie sind die Angehörigen blutsverwandt, bilden eine Sippe, es gibt Hierarchien und Abhängigkeiten. In der politischen Gemeinschaft aber kommen Menschen verschiedener sozialer, ethischer oder religiöser Herkunft zusammen und müssen sich nach vernünftigen Kriterien diskursiv finden. Die wichtigste Phase zwischen den ersten Erfahrungen in der Familie und dem späteren Wirken in den Institutionen einer Demokratie bildet daher die Schule. In der Klasse wird das Wesen der Demokratie erlebt und gelebt. Eine Schulklasse ist zufällig zusammengewürfelt. Hier stossen verschiedene Charakteren aufeinander, die lernen müssen, miteinander umzugehen und sich gegenseitig zu helfen. Hier lernen wir Freundschaft, welche die Unterschiede aus sozialer Herkunft und Religion überwindet. Die politische Bedeutung der Freundschaft zeigt sich darin, dass Freundschaft nur dort sein kann, wo andere als gleichwertig anerkannt werden, wo das Unterschiedliche als gleichberechtigt begriffen  wird. Freundschaft ist die Gemeinsamkeit in der Verschiedenheit.

Jedes politische Gremium, eine Partei, ein Parlament, eine Regierung sind ebenfalls mit Vertretern und Vertreterinnen verschiedener Herkunft und verschiedenen Interessen zusammengesetzt. Dem Wohl der Gemeinschaft können wir uns nur nähern, wenn wir trotz Differenz einen gemeinsamen Nenner finden.

Der Sinn der Schule

Ich durfte ihn in einer Privatschule erleben und ich vermisste ihn am staatlichen Gymnasium. Trotzdem will ich daraus keine ideologische Frage zugunsten der Privatschulen machen. Ich weiss natürlich, dass es auch das Gegenteil gibt: Sehr solidarische staatliche Schulen, die sich für die Integration verschiedenster Hintergründe mit Aufopferung und mit Erfolg einsetzen. Und es gibt umgekehrt Privatschulen, die nur gerade darauf bedacht sind, ihre Schüler auf den harten Wettbewerb im Wirtschaftsleben zu trainieren, die, wie damals die Lehrer im HG, ständig von sich selber als Elite und von allen anderen mit Verachtung sprechen.

In dasselbe Kapitel gehören die so genannten Überbegabten. Wieso müssen sie ständig Klassen überspringen? Wieso können sie ihre Begabung nicht ihren Mitschülern zur Verfügung stellen, indem sie ihnen zum Beispiel Nachhilfestunden geben? So könnten sie doch auch ihre soziale Intelligenz schärfen und Freundschaften pflegen. Die braucht es nämlich auch im Leben.  Ob privat oder staatlich: In einer Schule sollten wir zu Solidarität, zu Zusammenarbeit, zu Mitgefühl finden. Wenn wir uns nur an der Macht des Stärkeren orientieren und sie zur Richtschnur des Lebens machen, entfernen wir uns von Zivilisation und Humanität. Dann nähern wir uns letztendlich wieder den Gesetzen der Natur, welche schwaches Leben und Andersartigkeit ausgrenzt. Auf Mitmenschlichkeit, auf freiwilligen Einsatz und auf Vertrauen baut unser ganzer Staat auf. Ohne Vertrauen kann kein Staat funktionieren, nicht mit aller Polizeigewalt. Vertrauen bildet sich zwischen den Menschen, zuerst in der Familie, dann in der Schule.

Solches Vertrauen und solche Freundschaft durfte ich in meine Klasse in der FES erleben. Wir hatten einander gerne mit unseren Schwächen mit unseren Stärken. Wir waren uns nicht gleichgültig, bis heute nicht. Mit der Gleichgültigkeit stirbt die Freundschaft. Sie besteht darin, sich für die Probleme der Freunde zu interessieren und sich gleichzeitig selber einzubringen. Das ist auch das Wesen einer politischen Gemeinschaft.

Das ist es, was geblieben ist. Es ist sehr viel. Ich wünsche Ihnen, dasselbe erfahren zu wollen.