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Direkte Demokratie im Fahrwasser des Populismus


Eröffnungsrede der Demokratiekonferenz
des Kantons Aargau und des Bundeslandes Rheinland Pfalz
Aarau, 5. Juni 2014

Moritz Leuenberger


 

Die Arbeit in der direkten Demokratie prägt mein politisches Bewusstsein.

Ich widmete meine Antrittsrede, 15 Jahre später den Durchstich Gotthard und die Rücktrittsrede vor dem Parlament der direkten Demokratie.

Bei den Ansprachen habe ich zuweilen Wunsch und Wirklichkeit wohl etwas vermengt und Vieles in allzu rosigem Licht geschildert. Seit meinem Rücktritt ergab sich jedenfalls eine gewisse Distanz zu meinen damaligen Aussagen.  

Schon die Minarett Initiative irritierte und die Annahme der Initiative gegen Masseneinwanderung trägt zu einer weiteren Verunsicherung bei und lässt die direkte Demokratie zumindest in einem anderen Licht erscheinen.

 

I. Der inhaltliche Unterschied zwischen direkter und repräsentativer Demokratie

Es gibt zwischen der schweizerischen direkten Demokratie und den Diskussionen um „vermehrte Bürgerbeteiligung“ (oder zu Willy Brandts Losung „mehr Demokratie wagen“) einen fundamentalen Unterschied, der sich in zwei Mauerinschriften symbolisiert:

  • die Universität Zürich wurde durch eine Volksabstimmung im 19. Jhdt. beschlossen und so prangt seit 180 Jahren über ihrem Eingang die Inschrift:
    „Durch den Willen des Volkes“
  • Seit 1916, also vor weniger als 100 Jahren, ist über dem Eingang des Deutschen Bundestages in Berlin die Inschrift eingemeisselt:
    „Dem deutschen Volk“

In einem Fall handelte das Volk; es schuf sich eine Universität.
Im anderen Fall wurde dem Volk etwas geschenkt.
Das eine Mal ist das Volk ein Subjekt -  das andere Mal ein Dativobjekt.
Dieses Dativobjekt setzt sich dann fort in Ausdrücken wie „Bürgerbeteiligung“. „Sie dürfen ein wenig mitmachen, die Bürger, im Spiel der Profis“ ist die Grundhaltung.

In diesem Sinne wird auch ein Referendum auf beiden Seiten des Rheins völlig anders verstanden: Es ist bei uns nicht die Notbremse in einer verfahrenen Situation, wie bei Stuttgart 21, sondern ein permanentes und selbstverständliches Instrument des politischen Souveräns.  

Sie wissen: Ein Referendum oder eine Initiative sind nicht nur bei einfachen Vorlagen möglich, wo die Profipolitiker den Bürgern eine Entscheid zutrauen, wie bei der Einführung der Sommerzeit, und umgekehrt auch nicht nur bei umstrittenen heiklen und sehr wichtigen Vorlagen (wie das Referendum über die Erweiterung der EU um Rumänien und Bulgarien, worüber wir wegen dem Freizügigkeitsabkommen abstimmten, und, wie es vorgesehen war, für Kroatien, sondern grundsätzlich immer und bei allen Fragen.
In einzelnen Kantonen gibt es auch ein Referendum gegen den Budgetbeschluss des Parlamentes.

Unsere Demokratie, unser ganzes politisches Denken definiert sich im permanenten Gestalten des Staates durch die Stimmbürger. Es ist nicht so, dass sie sich am politischen Geschehen „beteiligen dürfen“, sondern sie „sollen“ den Staat aktiv mitgestalten; das ist eine Pflicht, ja, eine Tugend.

Sie erinnern sich: Letzte Abstimmung vom 18. Mai 2014:
Eidgenössisch:

  • Pädophilen Initiative
  • Mindestlohn
  • Beschaffung Grippen
  • Hausarztmedizin

Kantonal:

  • Kirchensteuern für juristische Personen
  • Richterwahl
  • Alkoholwerbung an Sportveranstaltungen

Gemeinde Zürich:

  • Schulraumpavillons
    (musste bei Vorbereitung nachschauen; wusste nicht mehr alles)

Das ist nicht eine gewährte Mitbeteiligung von Fall zu Fall, sondern die permanente Leitung der politischen Geschicke.
Da über das ganze Jahr Abstimmungen stattfinden, müssen sich die Stimmbürger über all diese Fragen stets informieren und die Folgen ihres Entscheides kennen, denn sie sind der Souverän.
Die politischen Antennen der Stimmbürger müssen ständig ausgefahren sein.
Das entspricht dem Idealbild der Citoyens. Sie gestalten den Staat und nicht eine elitäre „classe politque.“

Direkte Demokratie und der Einbezug von Minderheiten

Diese  Gestaltung verpflichtet zu weit mehr als dem blossen Gang zur Urne.
Es geht also nicht einfach um die Evaluation der Mehrheit. Das wäre ein bloß formaler Aspekt, der dem Grundgedanken der direkten Demokratie nicht zu genügen vermöchte. Direkte Demokratie ist nicht eine blosse politische Organisationsform.

„Wer ist dafür? Wer ist dagegen? Demokratie ist ein Segen.“ (Welttheater Einsiedeln, Text von Thomas Hürlimann).
Das wäre eine wenig integrative Haltung. Denn die Demokratie darf nicht zu einer Diktatur der Mehrheit verkommen.
Die Mehrheit hat nicht immer recht und ihre Meinung rechtfertigt nicht, die Hände in Unschuld zu waschen. Auch ein demokratisch legitimierter Mehrheitsentscheid entbindet nicht von der Diskussion über gut und schlecht.

Diese Gefahr der Majorisierung durch eine Mehrheit besteht bei uns vor allem, weil wir kein Verfassungsgericht kennen: Geplant wird eine 2. Gotthardröhre (für Automobile), was in einem  Gesetz geregelt werden soll, während die Alpeninitiative eine Kapazitätserhöhung  in der Verfassung ausschliesst. Das Volksmehr könnte den Willen einer Minderheit, welche die Verfassung mit dem Ständemehr schützt, aushebeln.

Der Gehalt der Demokratie erfordert sehr viel mehr, nämlich ein umfassendes Vorgehen, das alle einbezieht.
Ein Mehrheitsentscheid ist gegenüber den Minderheiten stets mit einleuchtenden Gründen zu rechtfertigen, so dass diese sich damit abfinden können.
Das heisst zunächst, dass

  • der Prozess so organisiert werden muss,

dass die Minderheiten sich artikulieren können.

  • Vernehmlassungsvefahren: Der frühe Einbezug aller Kräfte in Gesetzgebungsverfahren ist gesetzlich vorgeschrieben. (Kantone, Parteien, Interessenverbände, NGOs etc. )
  • Früher Einbezug aller Betroffenen: Entscheide über Standort oder Linienführung einer Infrastruktur dürfen nicht zum St. Floriansprinzip verkommen (das wäre Mehrheitsdiktatur):

(Deswegen ein Sachplan für die Endlagersuche von nuklearen Abfällen, mit dessen Resultat  auch die Nachbarn aus D und A einverstanden können sein sollen.)
Der Einbezug aller Kräfte strebt politische Stabilität und Nachhaltigkeit an. Deswegen Referendumstauglichkeit.
Sie wird nicht nur im Verfahren organisiert.

  • Berücksichtigung der Minderheiten prägt das demokratische Denken:
  • proportionale Regierungen in den Kantonen trotz Mehrheitswahlrecht
  • Nichtraucher / Raucher, Mieter, Arbeitnehmer
  • Entwurf von Gegenvorschlägen bei Initiativen, um Anliegen aufzunehmen (immerhin werden sehr viele Initiativen zurückgezogen oder erhalten keine Mehrheit; dennoch verändern sie etwas)
  • Und auch bei knapper Ablehnung einer Initiative wird ein Gesetz in Angriff genommen, welches die Anliegen der knapp unterlegenen Minderheit aufnimmt.

Die zahlreichen je nach Konstellation immer wieder anders gelagerten Minderheiten,  sprachliche, kulturelle, religiöse, regionale Minderheiten,
sie alle müssen sich in einem Mehrheitsentscheid auch wieder erkennen können.
Dies dient der Stabilisierung einer Gesellschaft, mit anderen Worten: der Erhaltung der Macht der Demokratie. Minderheiten einzubeziehen bedeutet Solidarität und dient der Stabilität.
Dahinter steht der Gedanke der Integration, also der Einbindung politischer Minderheiten.
Das Wort „solidarisch“ ist verwandt mit „solid“, also stabil, was aber nicht gleich bedeutend ist mit „konservativ“ und „Neuerungen abhold“.
Ganz im Gegenteil: Eine Demokratie, die stets neu Aspekte aufnimmt und Minderheiten rezipiert, die Experimente wagt, ist stabiler aber auch kreativer als ein konsequentes Mehrheits- Minderheitssystem.

Republikanisches und liberales Element der Demokratie

Aus republikanischer Sicht ist die demokratische Selbstbestimmung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, der einzelnen Kantone oder der Gemeinden als Körperschaften in der Schweiz gewiss sehr hoch entwickelt. Doch aus der Perspektive der einzelnen Individuen, dem liberalen Aspekt der Demokratie,  müssen wir uns Fragezeichen gefallen lassen.

  • Wir haben eine recht restriktive Einbürgerungspraxis und so konnten sich zum Beispiel zum Minarett Verbot ausgerechnet die am meisten Betroffenen, nämlich die Einwohner islamischen Glaubens nicht äussern.
  • Demgegenüber lese ich auf der Website der Landesregierung Rheinland Pfalz, dass Ministerin Alt gesagt habe: „Wir wollen, dass sich in Rheinland-Pfalz dauerhaft lebende Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit einbürgern lassen, damit sie alle staatsbürgerlichen Rechte erhalten und ausüben können - dazu gehören insbesondere das aktive und das passive Wahlrecht“. (Das sagt bei uns vielleicht ein Jungmitglied einer NGO.)
  • Auf das Stimm- und Wahlrecht haben die Schweizer Frauen ja bekanntlich recht lange gewartet und konnten sich dazu ja nicht äussern. (Einwand bei Belehrungen über Menschenreche in China)

II. Einige Erfahrungen

  • Verlässlichkeit / Nachhaltigkeit / keine Pendelbewegungen wie bei repräsentativer Demokratie, wo Wahlversprechen zu Pendelbewegungen führen.

Vor drei Jahren konnte vor den Kameras der Welt und unter der zugeschalteten Verkehrsministerkonferenz der EU den Durchstich des Eisenbahntunnels durch den Gotthard feiern. Der längste Tunnel der Welt wurde pünktlich und ohne Kostenüberschreitungen durchstochen. Ich widmete den Erfolg in der Festrede der direkten Demokratie.

Denn sie ermöglichte die konstante und konsequente Planung und Finanzierung dieses Werkes.
Mehrere Volksabstimmungen gab es dazu:

  • Volksinitiative, die vorschreibt, dass die Güter auf der Bahn und nicht auf der Strasse durch die Alpen transportiert werden (Alpeninitiative)
  • Eine über Linienführung der Bahn (Netzvariante),
  • Eine über die Finanzierung durch einen Fonds, der gespeist wird
  • durch eine LKW-Maut, LSVA und
  • das bilaterale Landverkehrsabkommen mit der EU.

Die härteste Nuss war die sehr umstrittene LKW-Maut (LSVA):
Sie zeigt einen weiteren Vorteil der Volksabstimmung:

  • Die Akzeptanz eines Entscheides

Das Volk hat gesprochen: Auch für die Gegner einer Vorlage.

Vergleich mit Maut von Manfred Stolpe, dem nach seinem Entscheid jedwede Stolpersteine in den Weg gelegt wurden – immer in der Hoffnung, es käme dann zu einem Regierungswechsel, der die Maut wieder umstoße.  In der direkten Demokratie bleibt nach dem letzten Wort der Stimmbürger ein Projekt über Legislaturperioden hinaus verlässlich planbar.
Auch Vergleich mit Maut Diskussion in Österreich gegenüber EU (denn EU hat mit internen Differenzen in A gespielt)

Die langfristig konzipierte und nachhaltige Verkehrspolitik ist also dank der direkten Demokratie möglich.
Die damit verbundene stetige Auseinandersetzung mit der Materie und die Gewissheit, selber mitentscheiden zu können, führen zu einem politischen Verantwortungsbewusstsein und dieses schafft auch eine staatspolitische

  • Identifikation der Bürger mit ihren Entscheiden

NEAT und Bahn 2000 wurden auch gutgeheißen aus Liebe zur Bahn und aus stolzem Pioniergeist, den längsten Tunnel der Welt beschlossen zu haben.
Diese Liebe und dieser Stolz besteht eben gerade darin, dass die Bahn selber beschlossen wurde.
Volksabstimmung über die Nationalisierung.
Vergleich mit Littauen.

Das führte bei Bahn 2000 dann auch zu einer Akzeptanz bei der Linienführung durch diejenigen, die von Lärm betroffen sind. Hat dazu geführt, dass am Schluss alle Grundeigentümer (!) auf Rekurse an das Bundesgericht verzichtet haben.

  • Relative Bedeutung der Regierung / geringe Stimmbeteiligung

Wahlen in die Regierung von relativer Bedeutung. Die ständige Auseinandersetzung mit der politischen Tagesordnung ist denn auch der grosse Unterschied zu einem Referendum als Notbremse, wo sich sachfremde Element einmischen: der Regierung eines „auswischen“ wollen, etc).
Umgekehrt: Wahlen weniger wichtig, wenn Referendum stets ergriffen werden kann. (Vgl. Aufregung um eine einzige Sitzverschiebung im BR).
Unterstrichen wird das in unserem System durch die Rotation des Bundespräsidenten, durch das Präsidialkollegium.
Geringe Stimmbeteiligung

  • Schere im Kopf der Exekutivpolitiker

antizipieren der Volksabstimmung. Unterwerfen sie sich voreilig der Volksabstimmung oder nehmen sie die Menschen ernst?
Vorteil: Auch die Regierung muss die politischen Antennen immer ausgefahren haben:

  • Durch die Einführung des fakultativen Referendums gegen neue KKW war der spätere Ausstieg aus der Atomenergie bereits besiegelt. Opportunismus?
  • Nicht nur Exekutivpolitiker gehorchen vorauseilend:

Initiative Erbschaftssteuer: Hektische Übertragungen von Liegenschaften bis Ende 2011 durch Notare in der ganzen Schweiz, Ferien der Notare gestrichen, Geburten vorzeitig eingeleitet, damit noch rechtzeitig verschenkt werden kann (Angst vor Rückwirkungsklausel).

  • Aber auch Nachteil:
  • Antizipation des Volksentscheides kann zu Opportunismus führen, was etwas ganz anderes ist.
  • Bei mir selber gesehen:
    • Zweijähriger Bundespräsident?
    • Idee Herrmann: 8. Bundesrat?

Habe mich an diesen Ideen nicht beteiligt, weil sie ohnehin aussichtslos sind.

Bedeutet grosse Gefahr der Erstarrung. Demokratie braucht aber auch Irritationen, neue Ideen. Das stetige Schielen auf die Volksmeinung ist einerseits eine Tugend (vox populi – vox dei), aber birgt auch die Gefahr des Opportunismus.
Deshalb: Man soll dem Volk aufs Maul schauen, aber ihm nicht nach dem Maul reden.
Das gilt erst recht gegenüber

  • Meinungsumfragen

Sich ihnen voreilig zu unterwerfen kann zu reinem Opportunismus ausarten. Meinungsumfragen sind etwas anderes als Abstimmungen (aus dem Bauch, nicht vorbereitet, sich nicht mit Zielkonflikten und Einwänden auseinandergesetzt).
Wer sich auf Meinungsumfragen verlässt und sich vorsorglich schon ihnen anpasst, vertut sich die Chance, die Gesellschaft zu gestalten. Ein Kompromissler, der all zu schnell auf die vermeintliche Mehrheitsmeinung stützt und sich dem mainstream anpasst, bringt sich selber nicht mehr ein.
Kommt dazu: die Befragten reagieren aus dem Bauch und sind nicht vorbereitet.
Grundgedanke der Demokratie: eine Gemeinschaft.

  • Deshalb werden Wahlen und Abstimmungen an Sonntagen abgehalten (der gemeinsame Gang zur Urne  hat durchaus etwas Sakrales, die Demokratie wird gefeiert),
  • Demokratie ist eben nicht eine blosse Organisationsform, sondern sie bildet eine politische Gesinnungsgemeinschaft. Das ist der grosse Unterschied zu Meinungsumfragen.

Aber: Das geht verloren mit brieflicher Abstimmung und mit e voting.

Überleitung zu:

III. Demokratieverständnis im Wandel

  • Gegenseitige Rezeption des Demokratieverständnisses

Nicht nur Kapitalmarkt und Warenhandel überschreiten Kontinente, sondern auch Internet, Skype, Facebook, die Medien. Sie gestalten heute in einen weltumspannenden – und nicht nur nachbarlichen - Kommunikationsraum. Das führt zu einem globalen Kulturaustausch.

 

Zur Kultur gehört auch die politische Kultur und wir sind davon betroffen.
Die Auffassungen, wie denn eigentlich eine Demokratie funktionieren sollte, ändern sich:

  • Vermehrter Wunsch nach direkter Demokratie in unseren Nachbarländer (Stuttgart 21)
  • Wir übernehmen umgekehrt Begriffe, wir ändern unsere innere Einstellungen zur Demokratie:
    • Postminister, Verteidigungsminister etc statt BR als Teil eines kollektiv verantwortlichen Gremiums.
    • Volksabstimmungen werden hierzulande zunehmend nicht mehr als Mitbestimmung in Sachgeschäften verstanden sondern als Plebiszite wie in Ländern ohne direkte Demokratie,
  •  wie ein Plebiszit à la Napoleon oder wie die Volksbefragung in der Krim:
    • So wie 2005 Franzosen mit einem Nein zum EU Grundvertrag vor allem ihren Präsidenten Chirac abstrafen wollten (weil sie zu diesem Zeitpunkt keine andere Gelegenheit dazu hatten),
    • so gab es linke Frauen, die haben der Minarettinitiative zugestimmt, weil der Islam die Frauen nicht gleichberechtigt behandle
    • und so stimmten Bürger und Bürgerinnen für die Masseneinwanderungsinitiative, weil ihnen ein Vorgesetzter aus Deutschland nicht passte, weil es eng in den Bussen und der S Bahn sei.
    • Auch bei uns wurde nicht mehr nach dem Ideal der direkten Demokratie abgestimmt, wo jeder Stimmbürger auch gewillt ist, Verantwortung für die Folgen seines Entscheides zu tragen  und deshalb alle Folgen vorher abzuwägen.
    • Zusätzlich haben offenbar jüngere Stimmbürger, die nun von den Folgen betroffen sind, gar nicht erst abgestimmt. (Rückgang Stimmbeteiligung. Entpolitisierung.)
  • Formulierung von Initiativen als Aufputschmittel oder als „Spielzeug“
    • Auch die Formulierung einer Initiative ist eine kulturelle Rezeption, die sich an Staatsformen und Begriffen wie classe politique, gegen die man sich erheben müsse, anlehnt und sie übernimmt.
    • Sie wird als Kampfinstrument, als allgemeines Glaubensbekenntnis oder, wie die NZZ gestern titelte, als „Spielzeug“ gebraucht. (Neueste SVP Idee: Initiative, um das bilaterale Abkommen über die Personenfreizügigkeit zu künden.)
    • Sie wird ausgerechnet von denjenigen gepflegt, die sich lautstark für die Bewahrung unserer demokratischen Eigenschaften stark machen. Sie sind viel stärker in ein Denken eingebunden, das weit entfernt ist von unseren Idealen einer direkten Demokratie.
    • Sie haben auch den Begriff classe politique in der Schweiz eingeführt, obwohl er unserem Grundverständnis widerspricht.
    • Ausdrücke wie „Die da oben.“ Oder umgekehrt: „Das Volk“ zeugen von latentem Kastendenken. Wer ist denn das Volk? Wer gehört dazu und wer nicht?
    • Selbst der Buchtitel eines Unverdächtigen erscheint mir verdächtig: Kurt Beck: „Nah bei den Menschen“ Hebt dieser Titel den Politiker nicht unbewusst langsam in Gottes Nähe?

 

So entleert sich allmählich der Grundgehalt der direkten Demokratie, indem er andere Systeme perzipiert und in die seichten Gewässer  des Populismus abdriftet.

  • Mangelnde Transparenz über die Finanzierung

Populismus, PR Professionalismus
Der so genannte Wutbürger gepflegt und zwar durch finanzstarke Gruppierungen, die mithilfe von PR Profis auf der Klaviatur der Massenpsychologie zu spielen und zu verführen wissen.

  • Haben bei der Ablehnung des  Gripen auch andere Flugzeughersteller in die Antiwerbung investiert?
  • Bei der EWR Abstimmung 1992 schaffte eine millionenschwere Schlusskampagne den Turnaround.

Die Schweiz kennt weder eine Regelung der Parteienfinanzierung und noch eine Transparenz über die Finanzierung von Abstimmungskampagnen.

 

Zu einigen Einwänden gegen die direkte Demokratie

  • Der Sachverstand der Stimmbürger?

Immer wieder kommt die Frage nach der Kompetenz. Gibt es Grenzen der Zuständigkeit?

Sokrates:
„Beim wem suchen die Athener Rat, wenn sie einen Tempel errichten wollen? Doch wohl beim Architekten. Wen fragen sie, wenn sie ein Schiff bauen wollen? Den Fachmann. Aber in der Politik, einer weitaus komplizierteren Angelegenheit, von der das Gemeinwohl abhängt und die daher eine gewaltige Verantwortung mit sich bringt, da wird die Meinung eines jeden Bürgers akzeptiert, ja sogar verlangt. Da tritt jedermann als Ratgeber auf und niemand lästert, dass er es ohne jede Sachkenntnis und ohne jede Schulung tut, denn sie (die Athener) halten das offenbar nicht für lehrbar.“

Sokrates macht sich lustig über die Demokratie, und er ist nicht der einzige. Von Ministern, Bundeskanzlern und Bundespräsidenten unserer Nachbarländer höre ich gütige Hinweise, gelegentlich müssten wir doch unser Modell der direkten Demokratie aufgeben und das Parlament „professionalisieren“.

Was ist denn ein professioneller Politiker? Der Beruf des Politikers und der Politikerin definiert sich nicht über die aufgewendete Arbeitszeit, er oder sie ist nicht Fachexperte in den umfassenden Materien, über die sie politisch entscheiden.
Drei wesentliche Eigenschaften müsse der Politiker haben, stellte Max Weber in der erwähnten Rede „Politik als Beruf“ fest: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmass.
Keine dieser Eigenschaften ist erlernbar, wenigstens nicht in Kursen, aber eben doch im eigenen Beruf, in der Familie, im Musik- und im Sportverein.
Letztlich brauchen auch der Stimmbürger und die Stimmbürgerin kein Expertenwissen, sondern den gesunden Menschenverstand – ein anderer Ausdruck für Augenmass und gewissenhafter Verantwortung.

  • Der Nationalrat beriet in dieser Woche die Präimplatationsdiagnostik (PID). So genannte Retterbabys wurden dabei nicht zugelassen. Der Kommentator der NZZ ist inhaltlich anderer Meinung und bezeichnete deshalb die Debatte als ungenügend, mit anderen Worten die Parlamentarier waren nicht reif. Wer ist dann reif? Der Fachexperte? Der Journalist? Das Regierungsmitglied? Das Fachwissen als Kriterium führt zur Expertokratie.
  • Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, die nicht zur Urne gehen, weil sie die Materie der Vorlage nicht bis in alle Verästelungen durchschauen und begreifen, sollten wissen, dass sich viele Parlamentarier, ja sogar Regierungsmitglieder nicht restlos der Logik unterziehen und nicht jedes Detail oder jeden möglichen Zusammenhang kennen und ausgelotet haben.
  • (Auch sie orientieren sich an Fachleuten, auf die sie sich verlassen, auf Menschen, in die sie Vertrauen haben, oder sie folgen einem Gefühl, einer Intuition, ihrem Herzen.

Ich wehre mich dagegen, dass die Stimmbürger in einzelnen Fragen als nicht mündig angesehen werden, (auch wenn ich mit vielen Entscheidungen inhaltlich keineswegs einverstanden bin).
In welchen Fragen soll denn der Staatsbürger warum weniger kompetent sein als in anderen? )

  • Hinter Eingrenzungsversuchen der Kompetenzen steht der grundsätzliche Zweifel an der Urteilfähigkeit der Stimmbürger:

Ich kenne diese Argumentationen noch von den Diskussionen über das Frauenstimmrecht: Die Frau hat einfach zu viel Emotionen und Gefühle.
(Wie froh war ich um die Frauenmehrheit im Bundesrat, mit der ich endlich das Sicherheitsprogramm für den Strassenverkehr durchsetzen konnte.)

Die Stimmbürger können sehr wohl die Aussenpolitik gestalten.

CH hat indirekt Ja zur EU Erweiterung gesagt und Ja zu UNO.
Sie haben leider  nein zum EWR gesagt, aber das ist nicht eine Frage der Kompetenz, sondern einer anderen politischen Haltung; auch Experten und Regierungsmitglieder waren ja gegen den Beitritt.
Deutsche Politiker sagten mir: so etwas Kompliziertes wie der Euro hätten die Stimmbürger nicht verstanden und er wäre nicht zustande gekommen. Angesichts von Griechenland: Habe ihn die Profipolitiker besser verstanden?
Das Gesetz über PID kommt übrigens ohnehin vor eine Volksabstimmung.

(Referendum kommt nicht von dumm;
vox populi heisst nicht vox Rindvieh)

Zum Sachverstand über Fragen der Demokratie gehört auch die

  • Einwand: Wir sind nur noch beschränkt autonom. Deswegen kann gar nicht über alles abgestimmt werden.

Fragen angesichts der Globalisierung und der EU Finanzkrise: „Wir sind nicht autonom, obwohl wir das sein möchten. Wir sind von Entscheiden betroffen, auf die wir keinen Einfluss haben.“

Der Einwand ist richtig. Aber diese Einsicht ist allen zuzumuten.

Dieser Erkenntnis müssen sich auch Regierungsmitglieder beugen. Sie versuchen ja auch, sie ihren Wählern zu vermitteln und zu eben dieser Erkenntnis muss und kann der Stimmbürger in der direkten Demokratie gelangen. In diesem Sinne kann er sich auch zu außenpolitischen Fragen äußern. Sein Einfluss ist so wenig absolut, wie der Einfluss eines Außenministers oder eines Präsidenten.  
Wenn eine Initiative völkerrechtswidrig ist, darf sie nicht zugelassen werden; das ist in unserer Verfassung vorgesehen. Die Bestimmung wird jetzt konkreter gefasst und verschärft.
Man könnte auch verlangen, dass vor Initiative mit Widerspruch zu Völkerrecht eine Initiative eingereicht werden muss, die den Ausstieg aus einem multi- oder bilateralen Verhältnis verlangt. 

  • Direkte Demokratie bringt nicht „bessere“ oder richtigere Entscheide

Damit hängt die Erkenntnis zusammen: Es gibt nicht immer  richtige oder falsche Entscheide. Und die direkte Demokratie bringt deshalb nicht einfach die „richtigen“ Entscheide.

Ein Kurzschluss vieler Anhänger der direkten Demokratie (v.a. in D und A) ist die Erwartung, sie würden dann bei einer Abstimmung immer recht erhalten. Beispiel Stuttgart 21: die Rot-Grüne Regierung muss jetzt den Bahnhof bauen.

Auch ich bin nicht etwa mit jedem Entscheid in der direkten Demokratie glücklich gewesen:
Ist die Verkehrspolitik zwar eine grosse Erfolgsgeschichte, so ist es unsere Energiepolitik weniger: Die vor mehr als zehn Jahren vorgesehene Energiewende zugunsten erneuerbarer Energien wurde in einer Volksabstimmung verworfen. Dahinter standen der Wirtschaftsverband und sehr viel Geld. Das hat uns zurückgeworfen.
Grund: Finanzielle starke Propaganda: 

  • Stete Reform der Demokratie

Auch eine Demokratie verändert sich und ihre Ausgestaltung muss dem Rechnung tragen. Einerseits muss der Grundgedanke stets wieder erkämpft werden und andererseits muss die Organisationsform stets erneuert werden.
Jede Demokratieform ist immer reformbedürftig.

  • In Kalifornien wurde die direkte Demokratie modifiziert, nachdem Interessengruppen mit sehr grossen finanziellen Mitteln die Volksrechte für ihre Zwecke nutzten.
  • Soeben wurde das so genannte „konstruktive Referendum“ im Kanton Zürich in einer Volksabstimmung abgeschafft, weil dessen Ausgestaltung einfach zu kompliziert war.
  • Sollen Finanzbeschlüsse dem Referendum unterworfen werden?
  • Soll der Bundesrat in eine Volkswahl gewählt werden?
  • Soll vorgeschrieben werden, dass bei völkerrechtswidrigen Initiativen zunächst eine Initiative auf Austritt aus der entsprechenden völkerrechtlichen Verpflichtung eingereicht werden muss?

Panta rhei.

Effizienz und Glück

Ein deutscher Bundespräsident raunte mir einmal vertraulich zu:

„Euer System ist schon sehr wenig effizient; damit müssen Sie wohl gelegentlich aufräumen“.

Auch bei uns werden Systeme in Asien bewundert: „Dort kann man ein Fussballstadion in einem Monat bauen, ohne dass sich die Nachbarn wehren können“.  (Oder man zeigt auf Deutschland: „Da können sie einen Flughafen bauen ohne jede Verzögerungen.“)
Es gibt andere Werte als die Effizienz,

  • (die übrigens nicht nur im Baurecht bewundert wird,
  • sondern auch im Strafrecht: Strafbefehle statt rechtsstaatliches Verfahren.
  • Solches Denken kann dann  bis zur Todesstrafe führen):.

Es gibt andere Werte: Menschenrechte, Beteiligung, um Zufriedenheit, Glück.
Die Gewissheit, die Geschicke des eigenen Gemeinwesens selber zu bestimmen und zu beeinflussen, auch wenn man von diesem Recht gar nicht immer Gebrauch macht, erfüllt die Menschen mit Zufriedenheit. Das wissen wir aus der Glücksforschung.
Viel wichtiger als wirtschaftliche Effizienz ist die Zufriedenheit, das Glück der Bürger und der Bürgerinnen.