70. Geburtstag von Hugo Loetscher
Ansprache, Zürich, 13. Januar 2000, im Zunfthaus zur Meisen
Ich träume gelegentlich davon, in einer Gesellschaft zu leben, in der es keine Röstigraben gibt zwischen Kultur, Politik und Intelligenz, davon, dass sich alle für Politik, auch für Tagespolitik interessieren und sich einbringen. Ich träume gelegentlich davon, dass Politik Kultur ist. Ich meine nicht Kulturpolitik, ich denke nicht an Subventionen, sondern daran, dass ebenso viele Politiker an Lesungen, Theatern und Konzerten anzutreffen wären wie an Sportveranstaltungen. Ich träume davon, dass sich Philosophen in die Wirtschaft, die Kultur und die Politik einbringen, dass der bekannte Satz: „Ein guter Staatsmann muss ein guter Philosoph sein“ nicht als exotische Absurdität aus dem Griechischunterricht belächelt wird.
Ich träume davon, dass sich Kulturschaffende für die Schweiz interessieren und sich nicht in die Welt flüchten, weil die Schweiz ihnen zu eng sei, davon, dass sie die Begeisterung, die sie den Neuentdeckungen und dem Anderen entgegenbringen, auch der Schweiz entgegenbringen. Diese Zuneigung und dieses Interesse müsste auch Kritik bedeuten. Doch ich träume dann auch davon, dass diese Kritik von den Mannen und Frauen dieses Landes nicht allsogleich als Verrat sondern eben als Liebe begriffen wird.
Ich träume aber auch davon, dass sich Kulturschaffende für die Welt interessieren, die Welt in die Schweiz holen und sich nicht in eine Innenwelt flüchten. Denn ich träume von einer Schweiz, welche die Globalisierung nicht als eine Bedrohung empfindet, sondern als kulturelle und als politische Aufgabe begreift, als eine Aufgabe, welche die Entdeckung der Welt und damit Verantwortung für sie bedeutet, die auch wahrgenommen wird. Ich träume davon, dass diese Verantwortung nicht bloss zwinglianisch und calvinistisch gepredigt wird und deswegen zwangsläufig als eine Last empfunden werden muss, sondern dass sie Lebensfreude bedeutet, ein Genuss. Und ich träume überhaupt davon, dass Freude und Humor Bestandteil all unserer Aktivitäten sind.
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Meine persönliche Erfahrung zeigt mir diesen Traum bis jetzt doch eher als Utopie:
Ein Bundesratskandidat aus dem Jura wurde mit dem Argument bekämpft, er sei zu schön angezogen und habe überhaupt zuviel Lebensfreude (Im Grossmünster soll sich ähnliches zugetragen haben).
Als ich die Gentechnologie am Beispiel der Gremlins erläutern wollte, handelte ich mir aus den eigenen politischen Reihen schärfste Rügen ein, es gäbe Themata, wo derlei Ausschweifungen fehl am Platz seien, weil es da einfach nichts zu lachen gebe.
Der Versuch, in einer offiziellen Stellungnahme zu den Lawinenschäden 99 den ersten Teil von Dürrenmatts „Die Panne“ zu zitieren, stiess auf den Einwand: „Die Leute wollen Geld und nicht Literatur“.
Ich denke an eine kürzliche UNO-Konferenz über grenzüberschreitende, hochgiftige Industrieabfälle in Basel. - Stundenlanges Ringen zwischen Drittwelt- und Industrieländern über Abfallexport - Kamerateams aus aller Welt, erste Frage an der Pressekonferenz: „Wie war Ihre Reise von Bern nach Basel?“ Begründung des Journalisten nach meiner ungehaltenen Reaktion: „Ich interessiere mich eben nicht für Politik“ (seien wir froh, dass Fussballreporter noch keine Opernvorführungen kommentieren...).
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Wenn ich den Traum einer allseits engagierten Gesellschaft dennoch weiter träume, sind Menschen wie Hugo Loetscher schuld daran. Er hat den Mut, sich heute abend von einem Politiker würdigen zu lassen.
Würdigungen in meiner Berufssparte werden in der Regel in vier Kapitel gegliedert: der Jubilar als Parteimitglied, als Parlamentarier, als Regierungsmitglied und - als Mensch. Würdige ich also Hugo Loetscher 1. als Schriftsteller, 2. als Journalisten, 3. als Literaturwissenschafter und 4. als Menschen? Kommen da nicht noch andere Disziplinen dazu wie Politiker, Historiker, Städter, Botschafter? Wie viele Kapitel verdient Hugo Loetscher und in welcher Reihenfolge sind sie zu gliedern? Sie und ich, wir wissen, so werden wir Hugo Loetscher nicht gerecht!
Hugo Loetscher denkt, empfindet und handelt gesamthaft, verflochten. Er ist Allgemeinpraktiker, ein interdisziplinäres Gesamtkunstwerk gewissermassen, und entsagt der Atomisierung gesellschaftlichen Denkens. Zwar wird heute dauernd von Vernetzung gesprochen, dennoch schreitet das Spartendenken voran und das hat nicht nur mit der Spezialisierung in einzelnen Disziplinen etwas zu tun sondern wohl auch mit einer Art Klassendenken, nämlich der Manie, die Welt in gut und böse, in links und rechts, in oben und unten einzuteilen. Als Politiker werde ich an Parties gefragt: „What’s your programm?“oder „Welchen Führungsstil pflegen Sie?“ mit der Möglichkeit, zwischen zwei englischen Ausdrücken zu wählen, welche ich beide nicht kenne. Es gibt einen trennscharfen Unterschied zwischen E-Musik und U-Musik. Es gibt Leute, die können erst sagen, ob ihnen ein Musikstück gefällt oder nicht, wenn sie wissen, zu welcher Kategorie es gehört. Eine häufige Frage, die Hugo Loetscher offenbar stets beantworten muss: „Sind Sie nun eigentlich Schriftsteller oder Journalist?“. Wo sich andere über diese Sorte Fragen nerven (wie ich, der ich in solchen Situationen sofort ein Gesicht wie auf einer Bundesratsfoto mache), bringt sich Hugo Loetscher fröhlich und analysierend ein, entlarvt die Frage als elitäre Katalogisiererei (ohne dies allerdings selber so zu schreiben, aber der Leser kommt zu diesem Schluss) und zählt auch gleich auf, wer weltweit zu den Vertretern gehört, die zwischen Literatur und Journalismus keinen Unterschied machen wollen (H.L. in „Literatur und Journalismus“ in „Für den Tag schreiben“, Weltwocheverlag).
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Doch Hugo Loetscher verbindet nicht nur Journalismus und Literatur. Dass er Grenzen überschreitet und ein Pendler zwischen vielen Welten sei, konnten wir ja in allen Geburtstagsbeiträgen lesen. Hin und her überschreitet er Grenzen, kulturell, professionell, physisch. Das Ueberschreiten von Grenzen ist seine Lebenslust, seine Lust, im Leben zu stehen bzw. hin- und herzugehen, in der Gesellschaft zu wirken. In einer Zeitschrift las ich, Hugo Loetscher sei ein Pendler zwischen Zürich und der Welt (erschrocken fragte ich mich: „Gehört denn Zürich nicht zur Welt?“). In einem Fernsehbeitrag erfuhr ich, dass er sogar Pendler zwischen zwei Sternzeichen (zwischen Schütze und Steinbock, also zwischen Abenteuer und Ambition) sei. Immer wieder begegnen wir dem Wort „Grenzüberschreitung“. Dieses erinnert auffällig an einen Titel von Jean-Rodolphe von Salis und so ganz abwegig ist der Vergleich ja nicht.
Hugo Loetscher überschreitet durchaus im wörtlichen Sinne Grenzen. Er ist Kosmopolit. Was vielen suspekt ist, dass die Schweiz in der Welt ist und die Welt in der Schweiz, verkörpert er. Die kulturelle Globalisierung nimmt in ihm Gestalt an. Zur Globalisierung herrscht hierzulande ein recht gestörtes Verhältnis. Sie wird als Gefahr empfunden, bewirkt Angst und ist Grund zu Abkapselung und Isolation. Dabei werden die Vorteile, welche die Oeffnung der Welt uns allen bringt, mit aller Selbstverständlichkeit konsumiert.
Aber eine Oeffnung der Schweiz? Ein Bundesrat jedenfalls sollte sich das genau überlegen und sich zumindest politisch korrekt ausdrücken: “Präsenz der Schweiz im Ausland“, - damit uns die Welt in der Schweiz weiterhin erspart bleibt.
Doch Hugo Loetscher lässt dies kühl. Er geht und kommt, wann er will. Er sitzt auch hier in den Cafés, zeigt uns, dass man nicht nur in New York Stadtneurotiker sein kann sondern auch in Zürich, schreibt über die Storchengasse und „die VelofahrerInnen mit ihren strafenden abgasfreien Blicken“ (und nährt damit das plagiatabhängige Vokabularium des Verkehrsministers).
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Mit Beiträgen wie demjenigen zur Storchengasse bekennt sich Hugo Loetscher auch zur Stadt als Heimat. Heimat wird hierzulande oft auf Kühe beschränkt (so sehr, dass selbst die Stadt Zürich sich welche aus Plastik holen musste (Ich weiss, Herr Stadtpräsident, es war nicht die Politik, es war die Wirtschaft, die das tat). Heimat wird auf Alphörner, idyllische Landschaften reduziert und entsprechend politisch besetzt. Wir haben die Isolation unseres Landes auch diesem Denken zu verdanken. Ich meine damit nicht einfach die SVP. Auch ökologische Bewegungen, die Grünen damals ausdrücklich, und Vertreter der Intellektuellen, darunter auch Schriftsteller, wollten in ihrem Welt(verbesserungs)schmerz doch nur die Schweiz gelten lassen und sprachen sich gegen den EWR aus und haben damit zur damaligen Ablehnung beigetragen. Heute gibt es die Vertreter der Alpeninitiative mit der fragwürdigen Haltung, dass Alpen und die dort lebenden Menschen „besonders“ geschützt werden müssten, als ob in den städtischen Agglomerationen nicht auch Menschen an Strassen wohnen müssten (nur dass sie keine Berge für Tunnel haben, in welchem der Verkehr versteckt werden könnte). Aber wir Städter und Städterinnen haben auch unsere Heimat!
Hugo Loetscher ist für uns eine Identifikationsfigur, die wir um so mehr brauchen, als wir im steten Verdacht stehen, mit unserem Urbanismus schlechtere Schweizer als andere zu sein. Dies widerfährt uns nicht nur deswegen, weil wir gelegentlich ins Ausland reisen, sondern weil die Ideen, die wir nach Hause bringen, die Kritik an den Zuständen, hier oft als Abtrünnigkeit aufgefasst werden, statt als das begriffen werden, was sie sind, als Liebe zu unserem Land.
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Hugo Loetscher ist nicht ein Intellektueller, der sich um politische Ueberzeugungen drückt, sondern er bringt sich ein, als aktiver Bürger, der eingreift, die Gesellschaft mitgestaltet mit breitem Engagement, als Citoyen, zugetan unserer schweizerischen und zürcherischen Gesellschaft, die vom konkreten Engagement der Bürgerinnen und Bürger lebt und darauf angewiesen ist. Ich denke an seine Vorlesung und späteren Artikel „Demokratisierung der Demokratie“. Ich denke vor allem an seine Vorträge in den USA, die jetzt wieder unter dem Buchtitel „Vom Erzählen erzählen“ veröffentlicht wurden, von denen ich als Regierungsmitglied dieses Landes genauso lerne und mich anregen lasse, wie das die Zuhörer in New York taten.
In diesem Sinne ist Hugo Loetscher Botschafter.
Er ist Botschafter für die Schweiz, für ihre Politik und Kultur im Ausland und im eigenen Lande. Ich traf letzte Woche in Dubai einen Walliser, der mir gestand, Zürich als Kulturstadt erst durch eine Begegnung mit Hugo Loetscher in Mexiko entdeckt zu haben. Vorher sei er überzeugt gewesen, in Zürich gäbe es nur Banken, kaum Theater und gar keine Arbeiterviertel.
Er ist Botschafter der Literaturschaffenden aus anderen Kulturkreisen (Portugal, Brasilien, ganz Südamerika, die er uns nahe bringt), Botschafter für das bessere Verständnis anderer politischer Systeme und Gesellschaften. Ich erinnere mich an die Analyse über 10 Jahre Fidel Castro, welche ich sorgsam studiert habe, bevor ich selbst offiziell in Kuba zu Gast war. Hugo Loetscher interpretiert Politik nicht in einem engen Sinn, sondern begreift sie als Alltag, an welchem er mitwirkt. Als Kosmopolit bringt er sich nicht nur in der Schweiz ein sondern in der Welt. Er gehörte zu den Kritikern des Salazar-Regimes in Portugal und hat dort damals etwas bewirkt für die spätere Aenderung.
Er analysiert die Sprachen, die wir pflegen, als Juristen, als Wissenschafter, als Literaten (über die politische Sprache habe ich von ihm noch nichts gelesen, hätte aber etliches beizusteuern. So hörte ich nach den Orkanschäden davon, dass „der Berg vermehrte Lawinentätigkeit entfaltet und es im Schmelzfalle zu Hochwasseraktivitäten“ komme.
Er ist Bote und Erklärer der Literatur selber, sogar der eigenen, er hält literaturwissenschaftliche Vorträge. Für Leute wie mich ist der Zugang zur Literatur nicht so einfach. Allein schon das Lesen eines Gedichtes muss gelernt sein. Aber wer lehrt uns das? Der Dichter lässt uns gewöhnlich allein, indem er sich mit dem eigenen Pegasusnüsterndampf umflort, der Literaturwissenschafter schwebt in universitären Wolken. Selten bemüht sich einer um uns, um unsere Rezeptionsfähigkeiten wie etwa Peter von Matt. Hugo Loetscher übernimmt die Dolmetscherarbeit gleich selbst und damit auch die Interpretationen seiner Arbeit.
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Wenn ich immer wieder sage, Kultur sei die wichtigste Infrastruktur einer Gesellschaft, dann meine ich dies, was Hugo Loetscher leistet:
Kulturförderung besteht nicht grundsätzlich aus Subventionen sondern vor allem darin, dieFähigkeit des Interessierten zu fördern und zu schärfen, nämlich zu lernen, Kultur zu erfahren. Dies kann nicht in der Residenz des dichterischen Olymps bewirkt werden sondern nur durch den Gang zu uns, durch die Liebe zu uns und mit dem Willen, zu uns zu gehören, mit uns zu sprechen, sich um unsere täglichen Kleinigkeiten ebenfalls zu kümmern, auch sie zu beschreiben, literarisch zu fassen, uns auf diese Weise abzuholen und uns damit neue Fenster auf andere Strassen und Gärten des Lebens zu öffnen. Das ist Kulturförderung, das ist die Arbeit in und an einer Gesellschaft, in der jede und jeder mitverantwortlich sein will. Das ist die Gesellschaft, von der ich manchmal träume.
Für sie wirkt Hugo Loetscher, denn er geht zu allen, auch zu uns.
Danke, dass er auch heute zu uns gekommen ist.