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Laudatio zur "Cicero"-Preisverleihung 2003


Prof. Dr. Gert Ueding, Direktor des Seminars für Allgemeine Rhetorik der Universität

Tübingen, an der Verleihung des Cicero-Rednerpreises an Bundesrat Moritz Leuenberger

Bonn, 19. September 2003

Sehr verehrter Preisträger, meine Damen und Herren!

von Antiphon, einem der klassischen zehn Redner Athens im 5.

Jahrhundert vor Christus, erzählt eine Anekdote, er habe, als

Verbannter in Korinth lebend, in seinem Hause eine Redepraxis

eröffnet mit der Aufschrift, er könne die Betrübten,

Niedergeschlagenen, Verzweifelten durch Reden heilen. Als die Leute

kamen, befragte er sie nach den Ursachen ihrer Krisen und redete

ihnen dann durch Trübsal und Trauer stillende Vortrage das Unglück

von der Seele. Was uns wie eine Vorwegnahme psychologischer

Therapiepraktiken erscheint, bezeugt zunächst einmal die "Macht des

Redegeistes" bei den Griechen, wie es Jacob Burckhardt, der große

Basler Kulturhistoriker, formulierte. Er zitierte in diesem

Zusammenhang auch einen Satz des Komödiendichters Aristophanes:

"Durch Reden wird der Geist beschwingt und der Mensch gehoben."

Ich weiß, und Ihre zweifelnden Blicke bestätigen es mir, unsere

Erfahrung läuft in der Regel auf das Gegenteil hinaus. Die Reden,

denen zuzuhören wir in die Verlegenheit kommen, sind im besten Falle

sachhaltig und verständlich, im schlechtesten eine bloß ärgerliche und

gänzlich überflüssige Pflichtübung, allemal aber rhetorische

Bettelsuppen. Die antiken Zeugnisse klingen uns wie von einem

anderen Stern. Weshalb ich noch einen dritten Gewährsmann zitieren

möchte, der uns nicht so fern liegt und dessen Zeugnis um so

unverdächtiger wirkt, als er zur Rhetorik ein zweideutiges Verhältnis

pflegte. "Das Verdienst der schönen menschlichen Rede", schrieb

Goethe 1810 an den befreundeten Weimarer Hofmeister Knebel (der

ihn einst zusammen mit Karl August aus Frankfurt wegengagiert hatte)

- "Das Verdienst der schönen menschlichen Rede ... übertrifft weit das

des Gesanges. Es ist ihm nichts zu vergleichen; seine Abwechslungen

und Mannigfaltigkeiten sind für das Gemüt unzählig."

Das ist seither zwar gründlich anders geworden, dass aber dieses

rednerische Ethos nicht gänzlich verklungen ist, ja heute - so scheint

 

es - von verschiedenen Seiten Zuzug und Verstärkung erfahrt: dafür

bürgt die alljährliche Cicero-Verleihung, dafür bürgen die Preisträger,

die in ihrem Zentrum stehen. "Wie gewinne ich die Zuhörer?" Welche

Worte wähle ich für welches Publikum? Wie weit darf der Versuch

gehen, die Sprache und das Denken des Zuhörers zu erahnen, damit

ich mit ihm eine gemeinsame Ebene für den Dialog finde? Wo beginnt

die Anbiederung, die Unterwerfung, indem ich ihm nach dem Munde

rede?“ Diese Fragen (es sind Grundfragen aller rhetorischen Kunst seit

ihrer klassischen Blütezeit) stehen in der Rede, die wir in diesem Jahr

in der Sparte Politik mit dem Cicero ausgezeichnet haben. Sie ist mit

der wahrhaft geschichts- und geistesträchtigen Trias “Das Böse, das

Gute, die Politik" überschrieben, aber zu einem politisch höchst

vermittelten, also eher politikfernen Anlaß gehalten worden, nämlich

während eines Symposiums des Luzerner Festivals zum Thema

"Verführung".

Als ein Kenner und Bewunderer Ihres rednerischen Oeuvres, Sie wissen

es vielleicht, sehr verehrter Herr Bundesrat, ist mir Ihre Vorliebe

vertraut, auch zu eher ungewöhnlichen, ich meine für Ihr Ministeramt

ungewöhnlichen, Anlässen zu sprechen. Sie bedeuten Ihnen eine

eigene Herausforderung, natürlich auch eine größere Freiheit in der

Gedankenführung, im rednerischen Schwung. Und Sie finden zudem

ein Publikum vor, das offener und bereiter zum Dialog ist, als es der

Politiker unter seinesgleichen sonst vorfindet. Denn Rede - Sie haben

es im Vorwort zur Sammlung Ihrer Ansprachen und Vorträge betont -

Rede verstehen Sie (übrigens ganz im Geiste Ciceros) als Gespräch, als

lebendige Interaktion mit dem Publikum. Daher flechten Sie so

reichhaltig Anekdoten, spontane Einfälle und epatierende Ideen ein;

daher lieben Sie die manchmal nachdrückliche, manchmal

überraschende und sogar provozierende, aber niemals bloß

bestätigende Frage; und daher üben Sie sich selber so meisterhaft in

jener rhetorischen Verführungskunst, von der die meisten allzu voreilig

glauben, sie sei spätestens durch die geschichtlichen Erfahrungen des

20. Jahrhunderts gründlich diskreditiert worden. Besonders hingerissen

hat mich, mit welcher Leichtigkeit und zugleich informierender

Gründlichkeit Sie die fragwürdigen und substantiellen, die

verlockenden und schöpferischen Aspekte Ihres Themas ausloten.

Und es stimmt ja: Verführt- und Bezaubert-Werden, Verführen und

Bezaubern - wer wollte ernstlich diese mächtigen Motive in seinem

Leben verleugnen? Und muß die Vernunft des Herzens (wie Pascal

sagte, den Sie ausdrücklich zitieren) der instrumentellen Vernunft

prinzipiell wirklich unterlegen sein? Rednerische Kunst ist auch ein

 

erotisches Ereignis, mit dieser Erinnerung beginnen Sie ja geradezu

Ihre Rede, Herr Bundesrat. Die Alten wußten darum, der große attische

Redner Gorgias ebenso wie sein unversöhnlicher Widersacher Platon.

Und als die schöne Hetäre Phryne, die Praxiteles für seine Aphrodite

Modell gestanden hatte, von einem neidischen Denunzianten der

Gottlosigkeit angeklagt wurde und der Prozeß sich schon zum

Schlimmen wendete, entblößte der Redner, der sie verteidigte, ihren

Busen, und sie ward freigesprochen.

 

Ich will mich nun nicht in Details verlieren, die für eine öffentliche Fest-

und Feierstunde vielleicht unziemlich wären, doch sicher soll Reden

auch entzünden. Kein großer Gedanke, kein Durchbruch von Neuem,

kein umwendendes Wollen ist je entstanden ohne die verführerische

Kraft des mitreißenden Wortes. Um es mit den Worten von Moritz

Leuenberger zu sagen: "Jede Verführung spricht etwas in uns an, das

uns fehlt, eine Sehnsucht, einen Traum, den wir gerne verwirklichen

möchten. Das kann auch eine Utopie sein. Grenzen zu sprengen, die

Grenzen zwischen Volk und Aristokratie, die Grenzen der Apartheid,

des eisernen Vorhanges, das waren zunächst Visionen, zu denen

kritische politische Anführer verführt haben, denn das jeweils

herrschende System erlaubte nicht, diese Grenzen in Frage zu stellen.

Verführung ist in diesem Sinne auch die Chance der Veränderung, der

Hoffnung, des Aufbruchs."

 

Welch glückliches Land, ist man versucht auszurufen, das heute noch

Staatsmänner hervorbringt, die solche Reden führen! Die sich also

nicht bloß der Politikverwaltung hingeben, sondern derart verführerisch

über den Tag hinaus denken. Ernst Bloch, der wortgewaltige Denker

des Neuen, des Aufbruchs und der konkreten Utopie, hatte seine

Freude daran. Gerade die Wahrheit, so forderte er schon 1937

angesichts der Lügenpropaganda der Nazis, muß scheinen - "gerade

die Wahrheit ist voll Figur"; sie greift nicht nur in den Verstand,

sondern ebenso in die Phantasie.

Solche Reden wirken wie ein Signal. Sie sind Ausdruck eines

produktiven Wirklichkeitsgefühls, das dem pragmatischen die

Standarte vorwegtragt und ohne das wir in keinem Lebensbereich auch

nur einen Schritt von der Stelle kamen. Hätten Sie, sehr verehrter Herr

Dr. Wiedeking, nicht gleichfalls einen kräftigen Schluck von diesem

faustischen Trank genommen, das Unternehmen, das Sie

repräsentieren, wäre nicht so glanzvoll aus seiner Krise wiedergeboren

- und Sie hätten niemals die Gelegenheit gehabt, die Rede zu halten,

die wir mit dem Cicero in der Kategorie Wirtschaft auszeichnen. Denn

 

es ist die Dankrede für eine andere Ehrung: Zum zweiten Male haben

zweieinhalbtausend Führungskräfte der Wirtschaft Ihr Unternehmen als

dasjenige ausgewählt, das den besten Ruf in Deutschland genießt.

Ohne Führungskraft ist diese Leistung natürlich nicht denkbar - ohne

die Kunst jener Verführung, von der eben die Rede war, allerdings

ebensowenig: ein Iebender und beredter Beweis für Moritz

Leuenbergers These. Man könnte ihn in die leichtgeschürzte Sentenz

ummünzen Von Wendelin Wiedeking verführt zu werden, bringt nicht

nur Erfolg, sondern sogar den besten Ruf ein.

 

Ich gestatte mir und uns diese Iaunige Formulierung, weil Sie selber

den Scherz Iieben, weil Ihre Reden voll witziger Doppeldeutigkeiten

sind und Sie sogar vor satirischem Witz nicht zurückschrecken. Mit

Vergnügen erinnere ich mich an Ihren so Iapidaren wie spöttischen

Kommentar, als Ihr mächtiger Stuttgarter Konkurrent die

Konzernsprache umstellte und damit der in der Wirtschaft höchst

verbreiteten Illoyalität gegenüber der deutschen Sprache so

demonstrativ Vorschub leistete. "In Stuttgart", so etwa lautete Ihr

beiläufig-bissiger Seitenhieb, "in Stuttgart sind jetzt alle Englischkurse

an der Volkshochschule ausgebucht."

 

Auch die von uns preisgekrönte Rede ist voll solch urbanen Witzes, den

Cicero das Salz jeder Rede genannt hat und ein unfehlbares Mittel

dazu, die Sympathie und Gunst des Publikums zu gewinnen. Womit

wir, Sie bemerken es hoffentlich alle mit einigem Vergnügen, meine

Damen und Herren, wieder beim Thema rhetorische Verführung

angelangt sind. Sie spielt in Ihrer Profession, Herr Wiedeking, noch

eine weitere Hauptrolle. Denn das Produkt all Ihrer technischen,

ästhetischen und ökonomischen Anstrengungen ist selber erotisch

derart aufgeladen, daß es alle möglichen Liebeserklärungen provoziert.

Sie zitieren in Ihrer Rede eine Journalistin, die nach der Probefahrt von

einem "fahrenden Eros-Center" schwärmte und fügen die ironische

Anmerkung hinzu, daß es einen wesentlichen Unterschied gebe: "bei

einem Porsche [sei] der Genuß spürbar langer".

 

Doch Spaß beiseite. Nachdenklich in ganz anderer Richtung hat mich

ein Satz Ihrer Rede gemacht, mit dem Sie scheinbar naheliegende

Ansprüche abwehren. Wir lassen es "uns auch nicht einreden", sagen

Sie an dieser Stelle, “wir hatten als Aktiengesellschaft in einer

modernen, aufgeklärten Wirtschaft allein nach den Regeln des

Kapitalmarktes zu funktionieren." Umgekehrt werde ein Schuh daraus.

 

 

Und Kapitalmarkt oder Börse honorierten solche Widerspenstigkeit

sogar, obwohl "wir deren Geschäftssysteme empfindlich stören."

 

In diesem Gedanken finde ich auch einen rhetorischen Sachverhalt

angesprochen, der oftmals in der auf schnellen Erfolg orientierten

alltäglichen Redepraxis verlorengeht. Moritz Leuenberger hat ihm

übrigens vor drei Jahren eine Rede auf einem Management-Symposion

gewidmet und ihn als "Die Kunst der richtigen Tempi" bezeichnet. Der

Redner beschäftigt sich darin mit der Beschleunigung und

Verlangsamung gesellschaftlicher Prozesse. Sein Ergebnis: "Es gibt

eine Geschwindigkeitsgrenze der Menschlichkeit, eine kategorische

Tempolimite gewissermaßen."

Das ist ein auch rhetorisch höchst bedeutsames Urteil. Wir leben in

einer Welt, in der die technischen Apparaturen ebenso wie das soziale,

das politische und erst recht das ökonomische Handeln auf Zeitgewinn

aus sind. Die Schnelligkeit der Entwicklungsprozesse und damit ihre

Unübersichtlichkeit werden immer größer. Der einzelne erscheint zum

hilflosen Anhängsel der elektronischen Apparate degradiert, die er sich

einbildet zu beherrschen, die aber in Wahrheit die ihn beherrschenden

Agenten seines Zeitmanagements sind. In einer derart unter

Beschleunigungsdruck stehenden Welt kommt der Rede eine geradezu

überlebenswichtige Aufgabe zu: diejenige der Verlangsamung und

Verzögerung. Der Vortrag, den wir heute in der Kategorie Wissenschaft

mit dem Cicero auszeichnen, Hans-Ulrich Wehlers Rede über

"Amerikanischen Nationalismus, Europa, den Islam und den 11.

September 2001", plädiert energisch gegen Entscheidungszwang und

den damit verbundenen Drang nach Beschleunigung.

 

Sie praktizieren damit aber auch, sehr verehrter Herr Kollege, jenes

"institutionalisierte Atemholen", das Aufgabe jeder Wissenschaft ist,

aber ebenso, wie es uns Hans Blumenberg gelehrt hat, die

fundamentale Funktion menschlicher Rede. Blumenberg definierte

Rhetorik geradezu als die Technik, physische durch verbale

Handlungen zu ersetzen, und fügte hinzu: "Wenn die Geschichte

überhaupt etwas lehrt, so dieses, daß ohne diese rhetorische Fähigkeit,

Handlungen zu ersetzen, von der Menschheit nicht mehr viel übrig

wäre."

 

Ich weiß nicht, sehr verehrter Herr Kollege, ob Sie der Allgemeinheit

dieser Aussage so zustimmen wollen, die ja auch ein Übergriff in das

Fach ist, als dessen bedeutendsten Vertreter in Deutschland wir Sie

 

 

begrüßen dürfen - ich weiß aber, daß Ihre Rede auf heute höchst

aktuelle und gefährliche Situationen des Handlungszwanges antwortet

und daß Sie damit in der Tat nichts anderes tun, als den

vermeintlichen Entscheidungszwang "herunterzureden", wie man so

schön und zugleich treffend sagt.

 

"Amerika und Europa", so beschreiben Sie die Ausgangs- und

Grundlage des Problems, "stehen seit geraumer Zeit einem

Spannungsherd gegenüber, der durch den Islam, in zugespitzter Form

durch den fundamentalistischen Islamismus, verkörpert wird". Worauf

Sie hinauswollen aber ist (um es, gewiß allzu verkürzt, zu sagen), daß

es unsere Hauptaufgabe ist, nichts zu überstürzen und "vielleicht

kurzlebige, doch zeitweilig belastbare Lösungen" den scheinbar

endgültigen vorzuziehen. Das bedeutet für Sie auch, der im

europäischen Geist so tiefverwurzelten Skepsis und produktiven

Umständlichkeit gegenüber jedem moralisch-religiösen Radikalismus

zur Geltung zu verhelfen.

 

Das ist der Punkt, in dem Rhetorik und Geschichte gemeinsam

kulminieren, nachdem die historische Wissenschaft seit der frühen

Neuzeit begann, sich von ihrem rhetorischen Mutterhaus zu lösen.

Beide, Rhetorik und Geschichte, verkörpern den Inbegriff der

Verzögerung, sie treten damit dem politisch oftmals so massiv

vorgebrachten Handlungsgebot als Alternative gegenüber. Wohin es

führt, wenn Rede und Debatte nur noch die Aufgabe haben, das

politisch eilfertig Entschiedene bloß zu sanktionieren, erleben die

Deutschen sehr schmerzhaft in diesen Monaten: eine "Maßnahme" (wie

das politische Jargonwort lautet) jagt die nächste, und politische

Handlung verkümmert zur Reaktion.

 

Diesem Mechanismus zu entkommen, gerade in der für Europa so

entscheidenden Frage des EU-Beitritts der Türkei, haben Sie in Ihrer

preisgekrönten Rede sich vorgenommen, darüber hinaus aber sehr

wirkungsvoll vor Augen und Ohren Ihres Publikums geführt, welch ein

Potential die Allianz von Geschichte und Rhetorik immer noch enthält.

In diesem Verständnis können wir getrost die Überzeugung Ciceros von

der historia als "magistra vitae", als Lehrmeisterin des Lebens, wieder

aufgreifen. Ernst Bloch erzählt in den "Spuren" die schöne Geschichte

vom armen Alten, dem im Traum eine Stimme von einem Schatz

berichtet, der unter dem zweiten Pfeiler der alten Brücke in Prag liege.

Der Alte macht sich auf den weiten Weg nach Prag, grabt an Ort und

Stelle, gräbt und gräbt tiefer und findet - nichts. Als er nach langer

 

 

Zeit, abgerissen, hungrig, frierend in seine Klitsche zurückkehrt, aber

zum Heizen kein Holz mehr hat, reißt er ein paar morsche

Dielenbretter aus dem Boden und entdeckt nun wirklich seinen Schatz.

 

War der Umweg nach Prag umsonst? Natürlich nicht. Aber die

kunstreich erzählte Geschichte lehrt noch darüber hinaus, daß wir im

Kampf für eine menschliche Geschwindigkeitsgrenze und für die

Auflösung des Mißverhältnisses "zwischen der Beschleunigung von

Prozessen und den Möglichkeiten, sie im Griff zu behalten"

(Blumenberg), eine mächtige, wenngleich vielfach mißachtete

Verbündete besitzen: die Kunst. Sie verfügt bekanntlich über ihre

eigene Zeitstruktur. Zwei Jahrzehnte umfalßt die Handlung von Ilias

und Odyssee, von der Ausfahrt aus Ithaka bis zur Rückkehr des Königs

Odysseus in seine Heimat. 24 Stunden benötigt James Joyce, um

seinem modernen Odysseus, Leopold Bloom, auf der Irrfahrt durch

seine Vaterstadt Dublin zu folgen.

 

Wahrhaftig: ich kenne keine andere menschliche Fertigkeit, die derart

souverän mit der Zeit umgeht, in der die Zeitstruktur nicht als ein für

allemal fixiert, sondern als elastisch, als dehnbar oder schrumpfbar,

wie man es gerade braucht, behandelt wird. Unterm Blick des

Künstlers eröffnet sich uns ein Multiversum von Zeiten, in denen die

Bedeutungen hin und her geschickt werden, der Umweg als Ideal

erscheint und Abschweifung, Verzögerung als Tugenden gelten. Das

Theater hat darüber hinaus noch seine eigene Zeitrechnung, auf der

Bühne, aber auch im Zuschauerraum. Es isoliert das Publikum schon

räumlich von der gewohnten Welt der schnellen Wege und einer auf

Effektivität geeichten Zeitökonomie, bringt es in eine Warteposition,

die viele schon nicht mehr aushalten. Hans Neuenfels, der große

Theater- und Opernregisseur unserer Tage, berichtet in seiner

preisgekrönten Rede "Nichts für schwache Nerven", daß für ihn die

"Umwege, diese Signale aus verschiedenen Zeiten und Standorten,

winzige Annahmestellen zu den oft scheinbar hermetisch

verschlossenen Kunstwerken" waren. "Denn natürlich", so fahren Sie,

sehr verehrter Herr Neuenfels, fort, "tarnen sie [die Kunstwerke] sich,

sind labyrinthischer als die Pyramiden, was ihnen die Dauer sichert,

ihre Unsterblichkeit, die in ihren unendlichen Auslegungen, in ihren

immerwährenden Interpretationen liegt." Übertragungen,

metaphorische Praktiken gehören substantiell zu Ihrem Metier, Herr

Neuenfels, kein Stück betritt ohne eine translatio temporum, ohne

Zeitübertragung, die Bühne, wenn es nicht unter antiquarischer Patina

erstarren will.

 

 

Was uns alle an Ihrer Rede so bewegt und überzeugt hat, ist Ihre

Entschlossenheit, den Gemeinplatz der "Klassik", also jene

marmorhaft-bläßliche Gipskopie der wirklichen Werke, als eine hohle

Phrase zu entlarven. Wallenstein ist so wenig klassisch in diesem Sinne

wie der Faust, selbst Goethes "Iphigenie" ist ein seelisches Kampfstück

von unerhörter Dramatik - von Kleist ganz zu schweigen. Der Zugang

zu diesen Werken ist freilich nicht ohne Anstrengung zu haben, und Sie

berichten ja auch, daß schon die erste Annäherung ein besonderes

Abenteuer ist: "Diese ersten Sekunden, sich abzunabeln von allem

Ballast, das ist eine Mordskonzentration ... Unterschätzen Sie das

nicht, auch nicht das Abnabeln. Ohne Hebamme hocken Sie da und

sind schon erwachsen."

 

Und noch auf eine andere Stelle Ihrer begeisterten und begeisternden

Rede, Herr Neuenfels, möchte ich unsere Aufmerksamkeit zum Schluß

lenken. "Es liegt eine ständige Überforderung in den Werken", sagen

Sie ohne Wenn und Aber, die Überforderung nämlich, "die Werte zu

behaupten, sie hochzustemmen, die Werte von Schönheit, ja

Menschlichkeit ..., das Humane wurde mit Gewalt aus dem Boden

gestampft und aus den Wolken gerissen ... Das macht ihre Kraft durch

die Zeiten aus". Das sind so wichtige wie nur selten noch vernehmbare

Worte im Zeitalter von Pisa und was damit zusammenhängt. Statt

Bildungsstoff zu eliminieren, weil er den unmittelbaren Weg von der

Theorie zur Praxis behindere, gilt es gerade darin: in dieser

verzögernden, behindernden, den Lebens- und Denkrhythmus

verlangsamenden Wirksamkeit der Kunst, ihren Wert und ihre

unersetzbare Funktion anzuerkennen. Als ich vor einigen Jahren las,

daß aus dem Literaturprogramm der Schulen in den USA Shakespeare

eliminiert worden sei, erschien mir das schon als ein Menetekel der

Kultur. Das rhetorische und das künstlerische Credo stimmen darin

überein, zwischen Signal und Reaktion jenes Atemholen, jene

ästhetischen und rhetorischen Umwege zu etablieren, ohne die es

keinen Frieden, keine Freiheit, kein menschenwürdiges Dasein in einer

reißend schnellebigen Welt geben kann.