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Bei den Wildhütern


Moritz Leuenberger - Übergabe der ersten eidgenössischen Fachausweise für Wildhüter, Brunnen, 19. November 2007

Die heutige Diplomfeier ist zweifellos ein besonderer Anlass. Derart viele Regierungsräte sehe ich sonst nur, wenn sie dem Bundesrat die Leviten lesen. Dann kommen sie meist rudelweise. Umso schöner, meine Kollegen mal an einer friedlichen Veranstaltung so zahlreich anzutreffen.

Ich bin auch froh, dass Sie, liebe Wildhüter, Ihre Gewehre noch nicht dabei haben. Sonst hätte bestimmt der eine oder andere unter Ihnen geglaubt, er müsse angesichts derart vieler Hoher Tiere regelnd eingreifen und den Bestand aktiv reduzieren.

Bis zur tatsächlichen Übergabe der Diplome haben wir Politiker jetzt aber noch Schonzeit.

Das ist gar nicht so selbstverständlich, denn im bundesbernischen Jagdrevier diskutiert man sehr aktiv über Abschussbewilligungen der drei amtsältesten Böcke. Darum habe ich mich gerne an diese Feier geflüchtet, so wie sich ein Hirsch während der Jagdzeit listig in den Nationalpark begibt.

Sie fragen sich bestimmt, warum zieht es so viele aktive Politiker an diese Diplomübergabe? Besonders legitimiert sind wir ja gar nicht, denn Regierungs- und Bundesrat ist einer der wenigen Berufe, für den es kein Examen braucht. Im Gegensatz zu den Wildhütern braucht es bei uns nicht einmal einen guten Leumund. Darum ist der Andrang auf Bundesratssitze so gross.

Wo liegen unsere Gemeinsamkeiten?

  • Gewiss, in Ihren und unseren Revieren gibt es Platzhirsche, Angsthasen, - zu viele Krähen sowieso.
  • Beide bewegen wir uns auf holprigem Terrain mit vielen Stolpersteinen,
  • beide stehen wir gelegentlich alleine auf weiter Flur und ziehen einen Schuh voll raus.

Doch ich glaube, da gibt es noch mehr.

Auch wenn ich den Stoff, den sie jetzt alle beherrschen, nicht erlernen musste, so ahne ich doch, wie anspruchsvoll es ist, sich mit ihm auseinanderzusetzen und wie viel schwieriger es sein wird, ihn in der Praxis anzuwenden. In Ihrem Beruf können Sie nicht einfachen Schemata folgen, nicht Rezepten, wie dies ein Techniker am Bildschirm tut oder ein Bundesrat im Nothelferkurs. Sie sind immer mit Widersprüchen, mit Zielkonflikten konfrontiert.

Ihre Arbeit in Ihrem Revier ist diejenige aller Menschen, welche sich die Erde untertan machen und sie gerade deshalb bewahren und schützen müssen. Das ist eine sehr grosse und sehr schwierige Aufgabe, die viele Menschen aus Wirtschaft, Politik und Kultur nur nach ihren eigenen kurzfristigen Interessen beurteilen, ohne nachhaltig zu denken. Was wir in der gegenwärtigen Diskussion um die Klimapolitik erleben, kennen Sie von den unterschiedlichen Ansprüchen der Menschen an die Natur:

Es gibt Menschen, die wollen die Natur nur gerade für wirtschaftliche Vorteile nutzen - und sie übersehen, dass sie sich so ihr eigene Zukunft verbauen.

Unser erstes Jagdgesetz verordnete Schutzbezirke und Schutzzeiten, nicht aus Mitleid gegenüber dem Wild, sondern aus wirtschaftlichen Gründen. Steinbock, Rothirsch, Wildschwein, Reh und Gämsen waren praktisch ausgerottet und damit versiegte eine Einnahmequelle für die Kantone.

Auch heute schützen wir die Natur nicht einfach aus romantischen Gründen, sondern auch aus wirtschaftlicher Notwendigkeit. Warum kommen Touristen in eine Region? Sie suchen die Ruhe, das intakte Landschaftsbild, die frische Luft. Von diesen Werten leben ganze Regionen, eine geplünderte Natur würde auch die wirtschaftlichen Grundlagen zerstören.

Was für eine Region gilt, gilt auch für die Schweiz und es gilt für die ganze Erde: Indem wir unsere Lebensgrundlagen schützen, sichern wir unser Überleben.

In manchen Gegenden der Welt ist dieses Überleben wegen den Folgen der Klimaerwärmung bereits heute nicht mehr möglich, z.B. in Teilen Afrikas, in denen sich die Wüste ausdehnt. In Afrika dehnt sich die Wüste aus, in der Schweiz schmelzen die Gletscher. Und gerade Wildhüterinnen und Wildhüter bemerken feine Veränderungen der Natur als Erste: Das Wild ändert sein Verhalten, wenn der Schnee ausbleibt, wenn sich die Baumgrenze verschiebt, wenn gewisse Pflanzen nicht mehr wachsen, neue dafür schon.

Sie wissen schon lange oder haben es jetzt in ihrer Ausbildung gelernt, wie fragil das Ökosystem ist, dass eine kleine Veränderung in einem Bereich eine grosse Kettenreaktion auslöst. Sie wissen, wie wichtig es ist, dass wir Menschen behutsam, sorgfältig, respektvoll mit der Natur umgehen müssen.

Und doch gibt es Wilderer. Es gibt nicht nur die Wilderer am Wilde, es gibt auch die Wilderer an den Regenwäldern, die Wilderer an den Thunfischen, die Wilderer am Klima.

Desgleichen handelt nicht nachhaltig, wer den Wald nur gerade als Sportarena für Biken, Joggen, Hundetraining und Skilaufen ausserhalb von Pisten betrachtet.

Und auch wer die Natur romantisiert, macht es sich zu einfach und blendet Zielkonflikte aus, die Sie als Wildhüter bestens kennen.

Auch in den Städten gibt es Probleme mit Tierpopulationen: Zu viele Tauben gab es schon immer, zu viele Krähen auch, und wer ihnen zu Leibe rücken will, bekommt Todesdrohungen. Es gibt auch derart viele Füchse, dass sich die Osterhasen nicht mehr in die Städte getrauen.

Und doch bleiben die Städter etwas schwärmerisch. Ich erinnere mich, als im Sommer der erste Bär über den Ofenpass ins Engadin einwanderte. Alle waren begeistert: Das Fernsehen kam, Touristen strömten ins Engadin - mit verklärtem Blick und griffbreiter Kamera, der Bär wurde liebevoll auf den Namen „Lumpaz" - Lausbub - getauft, ein Konditor buk kleine Bären aus Honigteig, ein Bundesrat wurde interviewt, er strahlte in die Kamera und sagte: „Willkommen Meister Petz!"

Erst auf den zweiten Blick sahen wir dann, dass so ein Bär nicht einfach ein Tourismus-Maskottchen ist, er kann auch gefährlich werden. Wir Städter haben länger gebraucht, das zu verstehen als Menschen, die in den Bergen leben. Städter neigen dazu, die Natur mythisch zu überhöhen, wir verfallen gelegentlich auch in eine Art Tierli-Romantizismus, der Konflikte ausblendet - zum Beispiel diejenigen Konflikte, die sich mit Luchs und Wolf und Bär ergeben können.

Einseitige Verklärung zugunsten der Natur kann sich als schädlich erweisen. Die Diskussion über das Waldsterben war nicht von der notwendigen wissenschaftlichen Kritik geprägt. Das schadet der Klimadebatte noch heute. Die überwältigende Mehrheit der Gutachten über die Klimaänderung kommt zum Schluss, dass sie von den Menschen verursacht ist. Dennoch  werden diese Gutachten wegen der damaligen Walddiskussion von vielen immer noch ins Lächerliche gezogen.

Den Interessenausgleich zwischen wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Zielen werden Sie in Ihrem künftigen Beruf tagtäglich vornehmen müssen. Wer - wie der Wildhüter - zwischen dem Jäger und dem Gleitschirmflieger vermittelt, zwischen der Spaziergängerin mit Hund und jener mit Kleinkind, wer sowohl dem Wolf wie dem Bauern, sowohl dem Bär wie dem Wanderer gerecht werden will, weiss: Es gibt keine einfachen Lösungen.

Das gilt nicht nur beim Wald. Wer behauptet, wir könnten nur gerade von erneuerbaren Energien leben, aber gleichzeitig aus Gründen des Landschaftsschutzes gegen Windanlagen und gegen höhere Staumauern ist, macht es sich zu einfach. Und es hat auch nichts von Nachhaltigkeit begriffen, wer jede Umweltmassnahme, wie damals die LSVA, dann die Filterpflicht und heute vor allem die CO2 Abgabe, als wirtschaftsschädlich bekämpft. Und dennoch muss im Wohle des Ganzen gegen Einzelinteressen durchgegriffen werden.

Das muss zunächst grenzüberschreitend erfolgen. Bär und Bartgeier foutieren sich um Grenzen, nicht nur zwischen Nationen, auch zwischen Kantonen, Gemeinden. Wie in der grossen Klimapolitik braucht es darum Koordination. Die ersten eidgenössischen Wildhüter-Diplome sind das Resultat langjähriger Koordinationsarbeit zwischen Kantonen. Zu diesem Zweck haben Sie vor einigen Jahren den Wildhüterverband gegründet. Solch grenzüberschreitende Koordination versuchen wir auf internationaler Ebene in Rio, Kyoto, demnächst in Bali.

Sodann müssen solche Vorschriften eingehalten werden. Und auch das wird Ihre Aufgabe sein: das Gesetz zu vollziehen. Das ist nicht immer angenehm. Die Allgemeinheit, die wir mit einem Gesetz schützen, ist ja eine abstrakte Grösse. Viel konkreter und näher sind uns die einzelnen Menschen oder Gruppierungen, welche ihre Partikularinteressen vertreten, manchmal heftig und lautstark: Der Wilderer, der Landwirt, der Mountainbiker, gelegentlich auch der Tierschützer, wenn es um Abschüsse geht.

Ich weiss, dass Sie sich oft unbeliebt machen müssen, dass sogar Ihre Familien angefeindet werden. Doch Sie tun Ihre Arbeit im Sinn der Sache, Sie müssen im Dienst der Allgemeinheit standhaft bleiben.

Nachhaltigkeit folgt nie einem Rezept, es gibt nie einfache Lösungen und deswegen ist Ihre Arbeit so anspruchsvoll. Aber dank Ihrer Ausbildung, dank Ihrer Praxis können und werden Sie eine Verantwortung für unser ganzes Land und darüber hinaus ganz allgemein für das Verhältnis zwischen Mensch und Natur wahrnehmen.

Eigentlich müsste jeder Politiker das Wildhüterdiplom machen.