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Dada immerdar - Eröffnung Zürcher Festspiele


Das Nichts im Ganzen und das Ganze im Nichts - Dada immerdar

Eröffnungsrede Festspielwochen Zürich, Pfauen, 4. Juni 2016

Moritz Leuenberger

DA

 

Endlich können wir ein Jubiläumsjahr einträchtig feiern, denn in diesem Jahr gibt es nur ein einziges wichtiges Jubiläum: Dada.

Wie zerstritten waren wir noch letztes Jahr, als Marignano, Morgarten und der Wienerkongress gegeneinander ausgespielt wurden, als die eine Jubiläumsfeier verhöhnt, die andere verlacht wurde, um die eigene, einzig wahre, umso patriotischer zu feiern.

Für das nächste Jahr bahnt sich auch schon wieder ein Ungemach der Jubiläen an:

Zwingli oder Luther? Oder beide? Spielte sich Luther nicht wie ein fremder Richter auf? Und Zwingli wie ein einheimischer Laienrichter, was ebenso verdächtig ist?

Also: Geniessen wir den Augenblick dieses Jahres. Heuer sind wir alle Dadaistinnen und Dadaisten. Und Dada ist für alle von uns da. Das zeigt sich in einigen Zeitungstiteln anfangs dieses Jahres:

-          Dada war ein Zucken im Rückenmark der Moderne (Cicero, Ringier)

-          Dada bedeutet Luxus des Besitzes (NZZ)

-          Dada – du bist, was du liest (TA)

-          Dada ist eine positive Provokation, so wie die Swatch (Nicolas Hayek)

-          Dada kommt gut an (Zürich Tourismus)

-          „Nie war Kunst so radikal. Dada war das Ganze!“ (Kulturplatz, SRF):

-          Zwei Tage später, ebenfalls SRF (Glanz & Gloria): „Dada war das Nichts!“ 

Das Ganze oder das Nichts? Was ist nun Dada?

Schon am 25. Februar stand in der NZZ: „Jeder Satz über Dada ist einer zu viel. Längst ist alles geschrieben oder gedacht.“ Dieser weisen Erkenntnis folgten dann allerdings sehr viele geschriebene Sätze, zum Teil auch gedachte.

Um mich zu legitimieren, erneut etwas zu sagen, suchte ich Zuflucht bei einem Politiker, der nicht nur Dada, sondern auch die politischen Reaktionen auf Dada vorweggenommen hat. Unser aller Staatsschreiber Gottfried Keller wurde hundert Jahre vor Dada geboren und er bekannte im grünen Heinrich:

„Es gibt eine Redensart, dass man nicht nur Niederreißen, sondern auch wissen müsse, aufzubauen, welche Phrase von oberflächlichen Leuten angebracht wird, wo ihnen eine sichtende Tätigkeit unbequem entgegentritt. Diese Redensart ist ..... ohne Verstand. Denn man reißt nicht stets nieder, um wieder aufzubauen; im Gegenteil, man reißt recht mit Fleiß nieder, um freien Raum für Licht und Luft zu gewinnen......“ 

AM ANFANG WAR DADA

Bestehende Strukturen wurden schon seit jeher radikal verneint, ohne dass ihnen Alternativen entgegengesetzt wurden. Wer die Diktatur eines Kaisers, eines Kirchenfürsten, einer Partei oder eines moralischen Mainstreams in Frage zu stellen wollte, verweigerte sich der herrschenden Logik und nutzte dazu provokative Ironie.

So begegnen wir Dada schon vor Jahrtausenden: Diogenes ging am helllichten Tag mit einer Laterne über den Markt und suchte so „einen Menschen.“ Horaz empfahl als höchste Klugheit, die Vernunft fahren zu lassen und scheinbar Torheit anzunehmen. Nonsens Gedichte gibt es vom Mittelalter bis zur Neuzeit. In der graphischen Erscheinungsform gleichen sie ganz den Dadatexten, welche das Landesmuseum zeigte:  Gedichte wurden schon im Hellenismus und dann in der Renaissance in der Form eines Beiles oder einer Flöte dargestellt. In wissenschaftlichen Abhandlungen nennt man das „Selbstreferentieller Bimedialität in tautologischer Ergänzung von Bild und Verb“.

Inhaltlich gab es Gedichte, die könnten die Ur- Ursonate von Kurt Schwitters sein, die wir nachher hören:

Ah, ra chicera

Roly, poly pickna,

Kinny, minny, festi,

Shanti-poo,

Ickermann, chickerman, chinee-choo. 

 

Das Gedicht stammt aus dem Jahre 1765, tönt nach einem Kinderreim und Kinderreime haben mit Dada durchaus etwas zu tun: Kinder, die sich in einer Geheimsprache oder mit unverständlichen Reimen unterhalten, entziehen sich der befohlenen Ordnung der Sprache und den Normen der Erwachsenen. Abzählreime sind auf der ganzen Welt Beispiele dieser kleinen Poesie.

Primo Levi beobachtete in „Die Internationale der Kinder“: „Kinderreime können über Sprach- und Landesgrenzen, auf den Spielplätzen von der Ukraine bis nach Portugal, in derselben Lautmalerei und im selben Rhythmus, aber immer ohne logischen Inhalt gehört werden. Politische Grenzen sind für unsere verbale Kultur ein Hindernis, während nonverbale Kultur der Spiele sie mit der unbeschwerten Leichtigkeit von Wind und Wolken überschreitet.“

Hans Danuser hat solche Reime als Schriftbilder in die Korridore der Zürcher Gesundheitsdirektion gezaubert. Wer die dortigen Amtsstuben betritt, um zu erfahren, ob ihm Zuschüsse an die Krankenkassenbeiträge zustehen oder nicht, der liest zunächst:

 

A zellä Pöllä schellä

D’Katz gaht uf Wallisellä 

Chunt sie wieder häi, hät sie chrummi Bäi

Piff paff puff und du bisch duss.

Und so ist er auf die Begründung des Entscheids, der ihn erwartet, bestens vorbereitet.

Nonsens aus der Kinderzeit wird dann später von Erwachsenen wieder abgerufen.

In der modernen Malerei können wir beobachten, wie mit Elementen von Kinderzeichnungen gespielt wird. Im Mittelalter wurde die geltende Ordnung umgekehrt, die heilige Sprache parodiert, die feierlichen Riten verlacht. Es taucht der Narr Hans Wurst auf (längst vor Conchita Wurst). Er trug später auch andere Namen wie Kasper, bei uns Kasperli. Am bekanntesten ist Papageno. Auch er spielt mit der Sprache und wendet sich, wie die ganze Hans-Wurst-Tradition, derb gegen alles Heroische und Weise.

So wurden dem geplagten Volk auch die Kaiser ohne Kleider gezeigt.

Dies liess ein Bewusstsein aufblühen, welches die Mächtigen gelegentlich tatsächlich stürzte. Aber, es waren in erste Linie Trostpflaster für die Unterdrückten, und deshalb war im alten Rom und im Mittelalter närrisches Treiben ausdrücklich toleriert. Der Narr war heilig.

LIEBES DADA - BÖSES DADA 

Dada hingegen konnte in der Demokratie nicht immer auf Toleranz zählen.

So einmütig wir heute Dada feiern, so klug und bierernst heute die Ironie von damals analysiert wird, (in einer Sternstunde wurde tiefgründig philosophiert über „Duchamps und die gesellschaftliche Relevanz des Urinoirs“), so sehr wir uns nun, hundert Jahre später, über Dada zusammen ergötzen, so ungehalten waren die damaligen Reaktionen, nicht nur von der Polizei, die Verhaftungen vornahm, auch von empörten Bürgern und von Behörden:

Sophie Täuber musste sich verleugnen und verkleiden, um ihre Stelle an der Schule behalten zu können. Erst viel später brachte sie es auf die 50 er Note. Diese wird ausgerechnet im Jubiläumsjahr ersetzt.  Auf der neuen Note ist nun eine Löwenzahnblume, die ausgeblasen wird. Man hätte ja wenigstens den 57 Kilometer langen Gotthardbasistunnel abbilden können. Oder zu Ehren seiner Länge statt eine 50er eine 57er Note herausgegeben können. Das wäre eine Referenz an Dada und den Tunnel zusammen gewesen.Immerhin erscheint Sophie Täubers ab 2016 in einer limitierten Auflage.

Die Nachfahren von Sophie Täuber, die sich verkleiden musste, erfuhren nicht minder heftige Reaktionen, bis in die heutige Zeit.

Wir wollen sie uns im kollektiven Jubiläumsjubel doch auch in Erinnerung rufen:

Der schweizerische Beitrag zur Weltausstellung in Sevilla bestand unter anderem in Ben Vautiers: „La suisse n’existe pas“. Dies löste im Zürcher Regierungsrat eine derartige Wut aus, dass er sich vehement gegen die Landesausstellung von 2002 stemmte.

Gegen Tinguelys Heureka, mit ihrem nicht-sinnigen Leerlauf, gab es einen Aufstand wie später gegen den Hafenkran: Ihr Standort war vor dem Kunsthaus vorgesehen, musste dann aber vom Stadtpräsidenten an den Stadtrand verschoben werden. Der Sprayer Nägeli kassierte eine unbedingte Gefängnisstrafe wegen Sachbeschädigung. Kürzlich wurde ein Architekt wegen Seifenblasen, die er auf öffentlichem Grund in die Luft steigen liess, verurteilt. Seifenblasen vor dem Stadthaus sind verboten, weil sie Kunst sind, Sprechblasen im Stadthaus sind aber erlaubt, denn sie sind keine Kunst. Das regelt die Polizeiverordnung.

Dura lex sed lex! Gesetz ist Gesetz! Auch ein hartes Gesetz ist die neueste Änderung der Gemeindeordnung. Der neue § 43b, gültig seit Januar 2016, lautet: „In den Kernzonen darf keine weitere Hafeninfrastruktur aufgestellt werden, insbesondere keine Hafenkräne, Hafenpoller und Schiffshörner.“

„Liebes Dada, böses Dada!“ Die politische Reaktion lässt Dada zum politischen Lackmustest für den Umgang mit Kritik werden. Dada hat während der letzten hundert Jahre schon manches scheinbar tolerante Gesicht entlarvt.

POLITIK & DADA

Es ist daher eigentlich erstaunlich, dass insbesondere Politikerinnen und Politiker zu Jubiläumsreden gerufen wurden. Sie waren ja die Zielscheibe. Heute verneigt sich die Politik tief vor Dada.

Vom Bundesrat bis zur Stadtpräsidentin stürzen sich alle in das Priesterkostüm von Hugo Ball und bekennen: „Ich bin Dada!“ Wie hätten sie (ich schliesse mich selber ein) damals auf die Provokationen von Dada reagiert? Hätten wir uns in unserer politischen Rolle, welche ja immer auch vom Zeitgeist geprägt wird, nicht auch distanziert?

Dada sei eine Verweigerung der Logik bürgerlicher Werte gewesen, welche für den Krieg verantwortlich waren. Als Politiker empfinde ich dies als etwas gar pauschal. Es gab immerhin auch seitens politischer Kräfte einen engagierten Kampf gegen den Krieg. Auch Bürgerliche wehrten sich überzeugt, Stefan Zweig, 1917 aus dem Militärdienst entlassen, zum Beispiel.

Der etwas selbstgefällige und kurze Schluss, wonach ganz generell „die“ Politik für alles Elend dieser Welt verantwortlich sei, stört mich zuweilen. Und auch, dass die blosse Verweigerung, am politischen Geschehen zu partizipieren, ein moralisch integrer Beitrag zu Verbesserung der Welt darstelle. So bin ich heute auch skeptisch gegenüber dem Ausdruck Zivilgesellschaft. Er wurde nach dem Nein zur Durchsetzungsinitiative ganz unkritisch in unserem politischen Vokabular willkommen geheissen. Die Zivilgesellschaft in einer direkten Demokratie sind die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Zu ihnen gehören übrigens auch Parlamentarier und die Regierungsmitglieder. Die Grenzziehung zwischen einer Zivilgesellschaft auf der einen Seite, zu der die NGOs gehören, die per definitionem nicht korrumpierbar sind, und der classe politique auf der anderen Seite, deren Begriff sich bei uns endgültig etabliert hat, 

ist ein Staatsverständnis, das mit unserer direkten Demokratie nichts zu tun hat. Eine Zivilgesellschaft gibt es - zum Glück - in der Türkei oder in Ägypten. Unsere Zivilgesellschaft aber ist die direkte Demokratie selber.

Doch wollen wir Dada aus der damaligen Zeit verstehen.

Der erste Weltkrieg, Vater des 2. Weltkrieges, ist aus der abendländischen Kultur entstanden. Er war von keinem Muslim, keinem Afrikaner und keinem Asiaten verursacht. Er war möglich trotz Kant, trotz Beethoven, Apollinaire und Schiller. Unsere Kultur hat diese Katastrophe ganz allein geschafft. Die Migranten, die sich zu Dada fanden, waren enttäuscht und entsetzt. Sie prangerten die Logik der Aufklärung als unfähig an und führten eine überzeitliche und objektive Vernunft endgültig als lächerlich vor.

Sie waren nicht die ersten und auch nicht die einzigen. Schon während der Aufklärung selber wurde dies thematisiert.Das Besondere und Neue an Dada war, dass diese Kritik und Verweigerung von einer grösseren kulturellen Bewegung erfolgte und nicht durch einen einzelnen Philosophen. 

 

Jede Zeit hat ihre Vernunft.

Es gab eine Vernunft, die hat Sklaverei, Rassengesetze, die Todesstrafe legitimiert. Es gab eine Vernunft, die Krieg als logische Notwendigkeit sah. Es gab eine Vernunft, die war überzeugt, sowohl den Kindern der Landstrasse als auch armen Bauern zu helfen.

Aus damaliger Sicht war das tatsächlich die Vernunft eines paternalistischen Staates, der gar kein Unrecht anstrebte.

Heute herrscht eine andere Vernunft. Wir leben heute in einer Zeit, in welcher alle Fragen des Lebens der Logik des Marktes untergeordnet wird. Der Begriff „Wert“ als ökonomischer Begriff beherrscht heute alle Lebensbereiche, auch die Biodiversität, Natur, die Liebe.

Auch diese heute vorherrschende Vernunft wird dereinst aus anderen Blickwinkeln beurteilt. 

Wer aus dem Diktat eines Mainstreams ausbrechen will, muss daher dessen Logik verneinen und in diesem Sinne „irrational“ agieren.

Auch da hatte Dada Vorläufer.

 

Die Formel „2 x 2 = 4“ wird in Russland so verwendet wie unser „logisch!“ Ihr wurde im 19. Jahrhundert in der Literatur entgegengesetzt: „2 x 2 = 5“. Turgenjew flehte: „Grosser Gott, gib, dass 2 x 2 nicht 4 sei!“ Dostojewski plädierte für „2 x 2 = 5“. Diese Formel führte er gegen die Vernunft von Sozialisten und Liberalisten ins Feld. In Fortsetzung dieses Geistes formierten sich in Petersburg und Moskau die Nitschwoken, die „Nichtsianer“. Sie forderten den Tod der Kunst, den Triumph des Nichts, malträtierten die Grammatik, pflegten regellose Schreibweisen und sinnlose Poesie. Wohlgemerkt, dies geschah alles längst vor unserem Dada!

Jede Vernunft, jede Sprache, jede Grammatik ist kulturell gefärbt und historisch bedingt. Die Vernunft ist, wie die Politik, Modeströmungen unterworfen. Folgerichtig pendelt auch die Verweigerung immer wieder in die Geschichte.

Doch, sobald eine Überzeugung zu einem dogmatischen Prinzip erhoben wird, gerät sie ihrerseits zur Ideologie. Das gilt für Religionen, politische Bewegungen, wo auch immer sie angesiedelt sind und es galt auch damals für Dada. Richard Huelsenbeck bekennt in seinem Werk „Dada-Logik 1913 - 1972“: „Wir umarmten eine Idee, aber wir kannten die Gefahr der Ideologie, die Gefahr, der bürokratisierten Idee.“

Und tatsächlich: Die Surrealisten, die auch in Dada wurzeln, wurden später zu Ideologen mit eigentlichen Verbandsausschlüssen: Salvador Dali wurde wegen einer nicht genehmen Heirat und einer falschen Weltanschauung exkommuniziert. Deswegen ist die Diskussion darüber, ob Dada Kunst mit politischen Folgen, oder ob es Politik von Künstlern war, nicht ganz unwichtig.

FLÜCHTIGES DADA

Darüber, und das ist das Schöne am Jubiläumsjahr, diskutieren wir derzeit ausgiebig. Wir können Dada einordnen, aber eben auch erst deswegen, weil hundert Jahre vergangen sind. Theorie kann vergangene Kunst aufarbeiten aber in der Gegenwart kommt sie ihr selten bei. Wer zeitgenössische Kunst rational erklärt, tut ihr meist Gewalt mit Worthülsen an. Darum sind Reden an Vernissagen immer so überaus peinlich: „Was will uns die Künstlerin sagen?“ Es ist eben Kunst und sie spricht ihre eigene Sprache, die ganz andere Saiten anklingen lässt, als die Worte der Interpreten.

Es ist in der Kunst selber angelegt, sich von geltenden Normen zu lösen. Daraus folgt auch, dass Kunst nicht einfach auf eine Antwort oder eine Gegenposition zur Logik reduziert werden kann, denn dieser entzieht sie sich ja. Wer mit Kunst etwas erreichen will, etwa eine bestimmte Haltung fördern möchte, der stellt fest, dass oft gerade das Gegenteil seiner Absicht eintritt. Kunst ist eine Kommunikation, die nicht den Regeln des Billardspieles folgt, wo der Lauf er Kugel berechnet werden kann.

Und wenn sich Kunst gar politischer Kampfrituale bedient, etwa einem Demonstrationszug vor die Haustüre des politischen Feindes, wird sie vollends zur Agitation. Als Vehikel von politischen Botschaften und Missionen lässt sie sich instrumentalisieren und ist dann nichts weiter als eben diese Politik, von der sie sich ja so gerne distanzieren möchte. Schlägt dann die politische Reaktion zurück - in ihrer voraussehbaren und gewohnten Einfältigkeit -  können die politisch besudelten Hände nicht mehr in der Unschuld der Kunst gewaschen werden.  

Genau diese Frage, ob und wie politisch Dada sei oder sein solle,

war ein Grund für seine Kurzlebigkeit. Ihre Mitglieder verharrten oft nur kurze Zeit und wandten sich nachher anderen Richtungen zu. Huelsenbeck zog nach New York, Tristan Tzara nach Paris, andere nach Berlin.

So flüchtig wie die Exponenten war auch die Bewegung selber. Sie hat sich nicht wie andere geschichtliche Kunstperioden während längerer Zeit verfestigt und sie ist auch nie zu einer Mehrheitsströmung geworden, (außer für die begrenzte Zeit der jetzigen Festwochen von heute bis zum 26. Juni, im ebenfalls begrenzten Raum der Stadt Zürich).

Ob der politische Nachbar des Cabaret Voltaire nachhaltiger gewirkt hat? Ein südamerikanisches Fernsehteam drehte 1959 einen Dokumentarfilm über Lenin und konnte die betagte frühere Hauswartin der Spiegelgasse aufstöbern. Diese gab Auskunft:

„Ja, der Herr Ulianov, stets ein überfüllter Briefkasten, immer eine Unordnung im Zimmer. Dann, 1917, ist er einfach eines Tages verschwunden. Man hat nie mehr etwas von ihm gehört.“

Recht hat sie, denn ein Jubiläumsjahr für die Oktoberrevolution ist in Zürich vorläufig nicht geplant.

DADA IMMERDAR

Aber Dada feiern wir.

Und wir möchten es nicht nur nostalgisch feiern. Ein Jubiläum, das nur zurückblickt, kann zur Verklärung, zur Anbiederung, zum Kult absterben. Ein Jubiläum, das vorwärtsschaut, das eine frühere Bewegung in den heutigen Kontext einordnet, kann die damalige Kreativität zu neuem Leben erwecken. Das ist die Absicht der Festspiele, die wir heute eröffnen.

In diesem Sinn werden die Dada-Soirées gestaltet, ­in diesem Sinn werden die dadaistischen Begegnungen nach dem Zufallsprinzip in Zürcher Privatwohnungen durchgeführt, in diesem Sinn werden Poetry Slams, Diskussionen und Dialoge, Texte, die in Dada wurzeln, neu geschrieben und vorgetragen. Das Programm will eine Kulturbewegung fortsetzen, die sich während der letzten hundert Jahre stets weiterentwickelt hat.

 

In Zürich strandeten ein paar Flüchtlinge. Sie schufen, wie sie sagten, Nichts. Und dieses Nichts ist uns heute das Ganze. In den kurzen Jahren, als sich in Zürich die Auflehnung gegen den Irrsinn des Krieges zur Kunstform Dada kristallisierte, wurde eine Entwicklung angestossen, für die wir heute dankbar sind. Ohne Dada keine Pipilotti Rist. Ohne Dada kein Kunsthaus. Ohne Dada auch keine Kunst eines Ai Wei Wei. Wenn dieser eine antike chinesische Vase zerschellen lässt, ist dies eine Auseinandersetzung nicht nur mit der Logik der Kulturrevolution, sondern es ist auch ein Aufstand gegen die kommunistische Diktatur in China. Das zeigt uns das politische Sprengpotential von Dada auf der ganzen Welt.

„Gebt mir einen festen Punkt und ich hebe die Erde aus den Angeln.“

Der archimedische Punkt liegt ausserhalb der Erde. Erst wer sich ausserhalb des Bereiches einer herrschenden Moral oder Logik begeben kann, entrinnt ihr und erst dort ist er fähig, einen eigenen Standpunkt einzunehmen. Und nur ein eigener Standpunkt ermöglicht, die Welt neu zu ordnen.

Wie schrieb doch unser Staatsschreiber Gottfried Keller?

„Man reißt nicht stets nieder, um wieder aufzubauen; im Gegenteil, man reißt recht mit Fleiß nieder, um freien Raum für Licht und Luft zu gewinnen, welche überall sich von selbst einfinden, wo ein sperrender Gegenstand weggenommen ist. Wen man den Dingen ins Gesicht schaut und sie mit Aufrichtigkeit behandelt, so ist nichts negativ, sondern alles ist positiv.“

Auf dass der Welt Dada erhalten bleibe, immerdar.