Die Welt ist eine Bühne. Und das Theater eine elitäre Blase?
Jubiläumsrede zu 40 Jahre Theaterspektakel
«Die Welt ist eine Bühne, das Leben ein Auftritt. Du kommst, du siehst, du gehst.»
Die alte griechische Weisheit sagt es: Theater und Politik sind Verwandte, Verwandt in der Form: Beide spitzen sie dramatisch zu, spielen mit Symbolen, wecken Gefühle. Beide nehmen Einfluss von ihren Bühnen, von der Bühne im Theater und von der im Fernsehstudio, von der Bühne im Parlament - mit Rednerpult und Mikrophon, von der Bühne der Strassendemo - mit Megaphon.
Verwandt im Willen, andere zu beeinflussen, zu überzeugen: Wir träumen davon, wie das Theater die Gewissen in Wirtschaft und Politik zu schärfen vermöge, wie Regierungsmitglieder, Manager und Unternehmerinnen das Theater als Quelle für ihr berufliches Ethos nutzen, wie die Bürgerinnen und Bürger, welche unseren Staat gestalten, Kino und Theater besuchen, wie sie dort neue Gedankengänge aus anderen Blickwinkeln entdecken, wie sie ihre Meinung ändern oder auch in der bisherigen bestärkt werden.
Ganz ähnliche Träume, wenn auch aus der anderen Optik, bekannten zu Beginn der kommenden Theatersaison auch alle die Neuen, die nun ihre Programme ankünden, vom Neumarkt, von Millers und vom Schauspielhaus: „Hallo Zürich!“, hörten und lasen wir, „Wir wollen auf die Stadt zugehen, rausbekommen, was sind die Milieus hier vor Ort, und mit denen möchten wir in einen Dialog kommen.“
So schwärmen wir alle von Theater und Politik als den beiden Brennpunkten jener Ellipse, die unsere Welt formt, dem Brennpunkt des Gewissens und dem Brennpunkt der politischen Handlung. Theater als ein Vektor der gesellschaftlichen Entwicklung, als Steuer, als Motor, als Bremse.
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So, oder ungefähr so, antworten wir zumindest in Interviews und Panelgesprächen.
Doch, Hand aufs Herz: Sind das nicht schwärmerische Wunschträume, formuliert für die Sternstunde oder eine Kulturpreisverleihung: „Theater, der Herzschlag der Demokratie.“ „Theater, die sakrale Oase im tosenden Lärm der profanen sozialen Medien.“ Dem wirklichen Verhältnis zwischen Theater und gesellschaftlicher Entwicklung entsprechen sie jedenfalls nicht.
Manager oder Politiker sind ja weniger an Lesungen oder im Theater anzutreffen, sondern doch eher an Sportveranstaltungen, hauptsächlich an solchen, die am Fernsehen übertragen werden. Die vorwiegende politische Kommunikation besteht im Zwitschern. Ein Tweed umfasst maximal 280 Zeichen. Das ist wenig Platz für Diskurs und Differenzierung.
Doch die Politik ist nicht die alleinige Ursache für diesen kulturellen Graben in unserer Demokratie. Wie oft sitze ich in einem Stück und verstehe kein Wort (Frankenstein war nur ein Beispiel). Theaterbesucher können doch nicht einen Text aufnehmen, der nicht einmal in einem Seminar mit fachlicher Vorbereitung halbwegs zu begreifen ist. Wenn ich dann in den Besprechungen in unseren Tageszeitungen nachlesen will, was ich da eigentlich gesehen haben könnte, finde ich mich nochmals in einer Art abgehobenen Geheimsprachen und denke an des Kaisers neue Kleider, obwohl dieselben Kritiker und Kritikerinnen sich in anderen Artikeln durchaus verständlich äussern.
Die Sprache ist nicht die einzige Barriere, die den Zugang zum Theater verwehrt. Wer ist heute fähig, eine Theateraufführung von vier oder mehr Stunden am Abend eines gewöhnlichen Werktages aufzunehmen und zu verarbeiten? Das ist nicht zu vergleichen mit Stefan Müllers Frisch - Spaziergang durch Zürich, denn eine solche Veranstaltungen wird entsprechend unseren Bedürfnissen nach Pausen, Essen und Trinken gestaltet. Auch monströse Technik ebnet den Zugang zum Stoff nicht, im Gegenteil. Maschinentheater wie „Die Perser“ in Salzburg gab es auch in Zürich: Ineinander verzahnte mehrstöckige, drehbare Ebenen stellen die Riesenräder auf dem Albisgüetli und am Züri Fäscht glatt in den Schatten. Kulissen, die an Spiele ohne Grenzen erinnern. Sie erschlagen den Inhalt des Theaterstückes und ersticken jedes Mitdenken. Wie sehnen wir uns da manchmal nach ein paar Brettern in einem Zelt.
Kommunikation bedeutet Gemeinsamkeit und diese bedingt, dass man sich gegenseitig versteht oder das zumindest will. Da sind alle Seiten gefordert. Eine unverständliche Inszenierung bedeutet auch die Verweigerung eines Dialoges. Ob dies gelegentlich nicht eine bewusste Abgrenzung ist, um sich zu intellektueller Unnahbarkeit emporzuschwingen?
Untermauert wird der Verdacht durch das Nasenrümpfen des Pfaus gegen Mac Donald und Spar als Nachbarn, obwohl er doch deren Kunden eben gerade auch gewinnen sollte, oder durch seine Berührungsängste gegenüber kleineren Theatern unserer Stadt.
Aber eben, Theater und Politik sind nahe Verwandte. Nichts Menschliches ist uns fremd.
Mir erscheint eine weitere Parallele: Angesichts der Entwicklung der Demokratien in Europa, dem Verfall der Volksparteien und dem Vormarsch populistischer Bewegungen, wird dem linksliberalen Bürgerinnen und Bürgern vorgeworfen, in eine elitäre Blase abgehoben zu haben. Es seien Emotionen vernachlässigt und die Menschen nicht mit ihren Herzen abgeholt worden. Ängste der Menschen würden nicht ernst genommen. Das führe zu Eliten und Unterprivilegierten, zu politischen Klassen und zu deren Unversöhnlichkeit. Das erst ermögliche den Vormarsch von extremen und dialogunwilligen Bewegungen.
In diesem Sinne wirft die NZZ Angela Merkel vor, sie hätte sich in Harvard nicht so pointiert linksliberal äussern dürfen; sie hätte mehr auf Trump eingehen müssen (Ausgabe 1. Juni 2019).
Ich teile solche Vorwürfe nicht, den gegen Angela Merkel schon gar nicht. Und deswegen verstehe ich auch, wenn Theaterschaffende ihrerseits zurückweisen, elitäre Verursacher einer Entfremdung zu sein. Aber wir Verwandte, ob im Theater oder in der Politik, ob auf der Bühne, vor oder hinter ihr, müssen eben doch in uns gehen und prüfen, wieviel Wahrheit in den Vorwürfen stecken könnte. Gibt es diese Gräben? Haben wir sie mitverursacht? Haben wir sie gar mitverschuldet?
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Wichtiger als endloses Grübeln und zerknirschte Selbstzerfleischung ist, die Brücken zu schlagen und an der Hoffnung zu arbeiten, welche Theater und Politik als Brennpunkte der Demokratie erstrebt.
Eine dieser Hoffnungen ist seit vierzig Jahren das Theaterspektakel. Ein offenes Volksfest für Kinderwagen und Kunst, offen für Gaukler und Clowns, offen als öffentlicher Raum von öffentlichem Interesse. Offen für Rollstuhlabhängige (was nicht selbstverständlich ist. Im Bernhardtheater ist es nicht möglich, mit dem Rollstuhl von der Bühne ins Publikum zu gelangen). Offen für Hörbehinderte, offen für Sehbehinderte (mit Audiodeskription: via Kopfhörer werden visuelle Szenen erklärt). Offen auch für Besucher, die nicht alle Sprachen verstehen. Heute ist die Untertitelung bei fremdsprachigen Gruppen die Regel. Das war nicht immer so, man hat dazu gelernt und begriffen: Es kann nicht jede und jeder englisch. Nein, das ist keine Spitze gegen den Bundespräsidenten, sondern, wenn schon, eher gegen die Überheblichkeit, jeder müsse englisch können. Das findet auch die neue Crew des Schauspielhauses. Im Jahresprogramm steht zwar alles und jedes auf englisch, aber immerhin ist alles auch noch auf deutsch übersetzt.
Offen ist das Theaterspektakel auch für den Austausch zwischen den einzelnen Theatergruppen unter sich. Das ist an solchen Festivals nicht selbstverständlich, weil sie in aller Regel nicht zentral angelegt sind, wie auf diesem Gelände. Offen für Menschen, welche das Theater neu entdecken, zum Beispiel dank dem Nationalballett aus dem Kosovo.
Allein schon die Durchmischung von Theaterzelten, Essständen, Feuerschluckern, Strassenmusikanten erlaubt und fördert den Austausch zwischen den verschiedensten Gruppen, also auch die Diskussion zwischen Zuschauerinnen und Theaterschaffenden.
Offen ist auch das Publikum. Auch ihm gehört ein Lob. Es wagt sich in diese Wundertüte, die uns hier am See erwartet. Es ist offen für völlig Unbekanntes aus Uganda, aus Syrien, aus einer Favela in Brasilien. Unbekanntes im Inhalt und in der Form. Ja, da läuft man hin und wieder auch verständnislos aus einem Zelt. Aber derartige Verständnisschwierigkeiten gehören zum Experiment von Begegnungen verschiedener Kulturen. Sie sind nicht zu vergleichen mit einer Belehrung von oben herab.
Offen für alle ist seit letztem Jahr der Stammtisch, an dem Publikum und Schauspieler miteinander diskutieren. Es sind nicht wenige, die kommen und ihre Beiträge unterscheiden sich von denjenigen nach einer Opernpremiere: „Also in Wien hatte der Tenor irgendwie mehr Timbre.“
Der Austausch zwischen Kulturen verschiedener Länder, Sprachen und Kontinente findet tatsächlich statt. Das ist kein schwärmerischer Traum, sondern Wirklichkeit, die sich in vierzig Jahren etabliert hat.
Eine Feier für 40 Jahre? Wir sind uns doch da grössere Zahlen gewohnt: Zwingli 500 Jahre, Frankenstein 200 Jahre, Dada 100 Jahre. Aber 40 Jahre? Das reicht ja nicht einmal zu einer Sesselibahn. Sogar Woodstock ist älter.
Unterschätzen wir 40 Jahre Theatergeschichte nicht. Viele Festivals sind während dieser Zeitdauer geboren, aber auch schon wieder eingestellt worden. Hierhin sind immer mehr Theaterspielende, immer mehr Gruppen, immer mehr Besucherinnen und Besucher gekommen.
Unterschätzen wir vierzig Jahre politische Geschichte nicht.
Es fielen die Mauer und der eiserne Vorhang. Es entstand die EU. Die Apartheid in Südafrika ist überwunden worden. Wie für jede Revolution oder Umwälzung spielten kultureller Widerstand und internationaler Druck eine entscheidende Rolle. Gruppen aus Afrika und speziell aus Südafrika spielten immer wieder am Spektakel. Eine Aufführung bleibt als Beispiel in Erinnerung:
1989 sponserte der Bankverein den Zürcher Tourismuspreis. Die Jury wählte als Gewinner des Preises das Theaterspektakel. (Das konnte der Bankverein zuvor nicht wissen.) Mit der Preissumme finanzierte das Spektakel Sarafino, ein Stück aus Südafrika. Am Schluss standen im Zirkuszelt 1‘200 Zuschauerinnen und Zuschauer mit stürmischem Applaus auf und sangen zum ANC Gruss „Free Nelson Mandela!“. Und so blieb den Herren des Bankvereins (das ist gendermässig korrekt: es waren nur Herren) nichts anderes übrig, als auch aufzustehen. Man sagt, ihre Gesichter hätten etwas gequält gewirkt.
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Das Theaterspektakel lässt uns hoffen, eine gemeinsame Welt von Kultur und Politik sei möglich. Es zeigt uns: Das Theater als Herz der Demokratie ist nicht eine Utopie, der Ort, auf dem wir uns befinden, ist nicht nirgendwo. Es schlägt hier am See, neben der roten Fabrik und der Werft seit 40 Jahren. Politik und Theater sind nahe Verwandte. Die alte griechische Weisheit sagt es: „Die Welt ist eine Bühne, das Leben ein Theaterspektakel, du kommst, du siehst, du kommst wieder und wieder und wieder.“
Zürich, 17. August 2019