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Egoistische Demokratie – ohnmächtige Umwelt?


40 Jahre Umweltschutzgesetz
Solothurn, 28. Juni 2024
ML

Die Schlagzeilen dieser Zeit klingen nicht nach Stärkung des Umweltrechts. Seit der Anfrage für die heutige Tagung fielen mir folgende Schlagzeilen auf:

• «Energieverbrauch 2023 gestiegen – treibende Kraft ist der Flugverkehr.»
• «Bauern sollen Diesel-Privileg verlieren – SVP warnt vor Protesten»
Vorbild seien die Proteste mit Traktoren in Frankreich und Deutschland wegen Treibstofferhöhungen.

• «Die Schweiz verfehlt ihr Klimaziel.»

Das CO2 Gesetz sei bis auf das Gerippe abgemagert. Mit ihm könnten die Klimaziele nicht erreicht werden. Dies sei eine Folge des neuen politischen Kräfteverhältnis im Parlament, wo die Rechte stärker vertreten sei, und die Grünen verloren hätten. Ob mangelnde Unterstützung des Klimaschutzes auf eine Frage von links und rechts reduziert werden kann? Ich habe meine Zweifel, denn wir lasen auch:

• «Keine Internalisierung der externen Verkehrskosten im Kanton Zürich.»

Im Kanton Zürich wurde letzten Herbst die Internalisierung der externen Kosten des Privatverkehrs auch mit den Stimmen der SP abgelehnt. Ihre Begründung: So würden finanziell Schwache unangemessen zur Kasse gebeten. Dazu gehört auch eine Meldung aus England:

• «Behördlich geduldete Sabotage von Verkehrsanlagen.»

In London kam es wegen einer geplanten Besteuerung der allerschmutzigsten Automobile zu einem eigentlichen Aufstand. Es kam zu Sabotageakten an Verkehrsregelungsanalagen, und zwar mit Einwilligung der Vorstadtbehörden, wo Pendler ansässig sind (und wo sie wählen). Wählerinnen und Wähler von Labour kehrten ihrer Partei den Rücken und straften sie a. Zurück in die Schweiz:

• «Klimaziele der Stadt Zürich sind eine Illusion.»

Wenn die Stadt Zürich wirklich klimaneutral werden will, so eine Studie, muss sie 90% des motorisierten Verkehrs einsparen, und zwar inklusive der Elektromobilität. Das gelingt auch der links-grünen Mehrheit nicht, wenn sie es dann überhaupt will.

 

Doch trotz all dieser Schlagzeilen sind die Grundsätze des Umweltschutzes anerkannt und unbestritten.

• Die Bundverfassung nennt die Nachhaltigkeit als Staatszweck (Art. 2 BV) und widmet der Umwelt einen ganzen Abschnitt (4. Abschnitt der BV, Art. 73 – 80) zu Umweltschutz, Raumplanung, Wasser, Wald, Naturschutz. Alles völlig unbestritten, angenommen von Volk und Ständen 1999.
• Die Umwelt rangiert auf dem Sorgenbarometer immer noch weit oben, gerade nach den Gesundheitskosten.
• Die Pariser Klimaziele sind akzeptiert, und breit abgestützt:
• Vor einem Jahr erfolgte in einer Volksabstimmung ein Bekenntnis zu diesen Zielen: Wir wollen bis 2050 klimaneutral werden.
◦ Allerdings: Zwei Jahre vor dem 18. Juni 2023 wurde ein Gesetz mit demselben Ziel abgelehnt.
◦ Warum? Weil es auch konkrete Massnahmen vorsah:
◦ Fliegen, Heizen, Autofahren wären teurer geworden. Erst die Reduktion auf das blosse Ziel führte zu einer Annahme des Grundsatzes.

Es ist offensichtlich: Es gibt eine Diskrepanz zwischen der Zielvorstellung und dem Willen, sie mit Massnahmen wirklich zu erreichen, zwischen der Gesinnungsethik und der Verantwortungswillen.

In einem anderen Artikel unserer Gesetzgebung steht:

«Wer die Einsicht hat, jedoch nicht in der Lage ist, gemäss dieser Einsicht zu handeln, der ist ….unzurechnungsfähig!» (Art. 10 StGB).

Die Diagnose des Strafrechtes ist klar: Unsere Demokratie ist unzurechnungsfähig.

Als Verteidiger suche ich nach mildernden Umständen.

Zunächst: Wir stehen nicht allein auf der Anklagebank oder, nach der Ausrede auf den Pausenplätzen formuliert: „Wir nicht, die andern auch!“
Alle internationalen Klima- und Umweltkonferenzen verlaufen nach demselben Muster:
Eindrückliche Reden, mit den immer wiederkehrenden Voten: «Wir brauchen Taten statt Worte.» Besonders eindrücklich war Arnold Schwarzenegger an einer Klimatagung der UNO im grossen Saal: «I am an actor and I know: All we need is action, action, action!»

In jeder Konferenz gibt es wochenlanges Feilschen um eine Abschlusserklärung. Bange Gesichter: Scheitert die Konferenz? Nein es wird noch ein Tag angehängt. Und eine Nacht und frühmorgens liegen sie sich alle übernächtigt in den Armen: «Wir haben eine Einigung. Die Umwelt ist gerettet.»
Immer kam mir das Gedicht von Tucholsky zu Liebenfilmen in den Sinn: „Nach dem Happy End / wird meist ausgeblendet.“ Die Umsetzung der Liebesschwüre an die Umwelt in den Schlusserklärungen verschieben wir lieber auf später.

Wie erklären wir uns diese Diskrepanz zwischen Beschwörung einer Vision und Versagen in der Realität? Ein Erklärungsversuch:

Drei Pole der demokratischen Gesellschaft:
Ich, Du, Er/Sie/Es

Jede Gemeinschaft, von der Familie bis zum demokratischen Staat, ordnet sich nach drei Zielkonflikten, nach drei Polen.

• Die erste Person, das «Ich»

Zuerst komme ich. Meine Interessen, meine Freiheit, meine Überzeugung.
Ich will mich einrichten, wie ich will, meinen Garten und meine Felder so gestalten, wie ich will.

• Die zweite Person, das «Du»

Doch jeder Bauer muss die Felder seines nahen Bauern, seines Nach Bauern, Nachbarn als Grenze seiner Wünsche begreifen. Er erkennt neben dem Ich das Du und muss sich mit ihm einrichten. Auch das benachbarte Du will seine Freiheit. Die beiden einigen sich und garantieren sich gegenseitig Freiheit, ziehen damit auch Grenzen, damit beide ihre, nun zwar begrenzte, Freiheit leben können. Doch sie realisieren bald: Es reicht nicht, wenn sie sich einigen. Es gibt einen dritten Pol:

• Die dritte Person, die anderen: «Er, Sie, Es»

Die beiden Nachbarn leben nicht allein auf dieser Welt. Es gibt, etwas weiter im Dorf, entfernt in anderen Kontinenten, «die Anderen». Ich und Du sind abhängig von Dritten, nicht nur von Menschen, auch von der Umgebung, der Um- Welt, ganz wörtlich, von der Welt um sie herum.

Das Spannungsfeld um dieses Dreieck bestimmt den ethischen Diskurs in einer Demokratie.

Dabei bildet die erste Person, das «Ich», immer den stärksten Pol. Es gibt die Auffassung, Demokratie sei nur noch von Egoismus geleitet und verliere das Verständnis für das übergeordnete Gemeinschaftsziel aus den Augen. Egoistische Motive werden allerdings meist nur bei den politischen Gegnern gesehen.

 

Die die NZZ titelte nach der Abstimmung zur 13. AHV-Rente: «Das Volk erliegt dem Ruf des Geldes.» (Im Gegensatz zu all den weitsichtigen Wirtschafts- und Bankenführern.)

Am schwächsten bleibt der dritte Pol, der selbst keine eigene Stimme hat: Menschen ohne Stimme, ohne Stimmrecht, Menschen in anderen Kontinenten, die von der Wirtschafts- oder Handelspolitik anderer Staaten betroffen sind. Die Umwelt, die Erde, die wir uns zum Untertan machen und deren Interessen wir meist nur so weit berücksichtigen, als sie unserem eigenen Interesse dienen.

Es ist wohl diese Rangordnung der drei Pole, weshalb die Umwelt bei uns vor erst fünfzig Jahren zu einem Verfassungsartikel und vor erst vierzig Jahren zu einem eigenen Gesetz, also zu ihrem Recht kam.

Die damaligen Einwände gegen eine Verankerung des Umweltrechts in der Verfassung sind auch heute lesens- und bedenkenswert: Heribert Rausch hat in einer Ausgabe von URP verdienstvoll einige solche Zitate aus dem amtlichen Bulletin des Parlamentes zusammengetragen:

• «Autobahnen sollen mit ihren Rasenstreifen mit Wiesenblumen vorbeiflitzende Geschäftsmänner und dahinziehende Touristen erfreuen.»
• Lärmschutz brauche es bei Strassen deshalb nicht, weil Strassen als solche gar keinen Lärm machen, sondern «so ruhig daliegen, wie jeder andere Teil der Landschaft.»

Das war die Zeit, als in der Zentralbibliothek Zürich rechtliche Beiträge zum Umweltschutz unter «Freizeitbeschäftigung» gesucht werden mussten.

Es gab gegen ein Umweltgesetz auch andere Einwände: Umweltrecht befinde sich in allen anderen Gesetzen und müsse dort angesiedelt werden. Oder: Umweltschutz sei Sache der Erziehung und der Kultur, deshalb sei kein Gesetz nötig. Das ist auch heute noch eine tief verwurzelte Haltung. Sie kommt zum Ausdruck in Fragen an den Umweltminister:
«Wie sind Sie an diesen Kongress gefahren? Mit dem Nachtzug oder dem Flugzeug?» Die Fragen. Zielen auf das Persönliche und meiden das Politische. Sie lenkên ab von der Hauptaufgabe der Umweltpolitik, nämlich von den notwendigen rechtlichen Normen.

Und dennoch hat dieser Aspekt eine Berechtigung und hat seine Grundlage sogar in der Bundesverfassung.

 

Die Liebe, die Moral, das Gesetz

Letztes Jahr feierten wir ihr 175 Jahre Jubiläum und riefen uns in Erinnerung:
Das Zusammenleben in unserem Staat und basiert auf einer weltlichen Dreifaltigkeit von Zwischenmenschlichkeit, Moral und Gesetz.

• (erstens) Mitmenschlichkeit oder Nächstenliebe

Im Grunde genommen bräuchte eine Gesellschaft keine Regeln und Sanktionen.
So könnte auch der Strassenverkehr einzig mit Rücksichtnahme und Vernunft funktionieren. Mit Rücksichtnahme auf andere Verkehrsteilnehmer und Anwohner, mit der Berechnung des Bremsweges im Kopf wären die gegenwärtigen Diskussionen zwischen Gemeinden und Kantonen um Tempo 30 überflüssig.

Diese Grundhaltung kann religiös oder aufklärerisch begründet werden. Im Römerbrief von Paulus steht: «Wir halten, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werk, allein durch den Glauben». Diese Überzeugung vertrat auch Jeremias Gotthelf. Die religiös begründete Nächstenliebe wurde in der Aufklärung zur Solidarität. Heute wird sie oft Achtsamkeit genannt. Ob Nächstenliebe oder Achtsamkeit: Immer geht es um ein Grundverhalten der Menschen. Sie wird in der Erziehung und der Kultur geformt, übernommen und weitergegeben. Ein Kind lernt: Man reisst einer Blume nicht einfach den Kopf ab. Man zertritt nicht einfach einen Käfer, man versucht besser, ihm auf die Beine helfen. So entsteht eine Empathie für die Natur.
Aus diesem religiösen oder kulturellen Grundwasser einer Gesellschaft fliessen dann die Diskussionen darüber, was gut und was böse sei und das mündet in

• (zweitens) in die moralischen Normen,

Nämlich in die Regeln über Anstand, über Treu und Glauben, über Vertrauen. Sie sind in der Bundesverfassung, im Zivilgesetzbuch oder im Straßenverkehrsrecht ausdrücklich verankert.

Moral als Begriff ist häufig negativ besetzt und wird mit Moralismus oder Moralin gleichgesetzt. Unter anderem wegen unglaubwürdigen Moralisten: Klimaaktivisten, die unmittelbar nach der Selbstanklebung nach Bali in den Urlaub fliegen oder Umweltminister, die Flugscham predigen, aber an eine Klimakonferenz fliegen, statt den Nachtzug zu nehmen. In einem Leitartikel der NZZ am Sonntag las ich kürzlich:

«Es gibt viel zu viel Moral, sie ist billig zu haben, sie verstellt den Blick auf das Wesentliche: auf die pragmatische Politik. Mit Moral ist heute kein anständiger Staat zu machen.»

Das ist ein gravierender staatspolitischer Fehler, vor allem für eine liberale Zeitung, die bei anderer Gelegenheit auf Eigenverantwortung statt auf verbindliche Normen pocht (Geldwäscherei, Konzernverantwortung). Und was heisst «pragmatische Politik» statt Moral? Woran orientiert sich denn die Praxis?
Die Bundesverfassung hält ausdrücklich fest, wie unerlässlich die Moral für unsere Gesellschaft ist, zum Beispiel in Art. 6 BV: «Jede Person nimmt Verantwortung wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei.» Der Grundsatz von Treu und Glauben, die gesetzlich vorgesehenen Vereinbarungen mit der Automobil- und Zementbranche, den CO2 Ausstoss zu reduzieren, sie alle sind Folgen der Moral als eine der gesellschaftlichen Grundlagen.

Dass ein Staat nicht bloss mit Moral gerecht funktionieren kann, ist uns aus allen anderen gesellschaftlichen Bereichen klar. Ein Staat ist auf

• (drittens) rechtliche Normen mit Sanktionen

angewiesen. Darum haben wir Verkehrsregeln und ein Strafrecht. Die Umwelt allerdings hat eine schwächere Stellung als Leib und Leben oder das Eigentum.

Wie verhelfen wir ihr, der Umwelt, zu ihrem Recht?

Organisatorische Massnahmen in Verwaltungen und Regierungen

Dazu zunächst einige Beobachtungen zu politischen Abläufen.

EU / international

Ich konnte während den 15 Jahren im BR an allen Ministerkonferenzen der EU teilnehmen, die mein Departement betrafen: Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation. Die jeweiligen Ministerinnen und Minister identifizierten sich immer mit ihrer jeweiligen Aufgabe. Die Parteizugehörigkeit spielte eine völlig untergeordnete Rolle. Dasselbe gilt bei globalen Konferenzen über Umweltthemen, zum Klima, zur Artenvielfalt, Entsorgung von gefährlichen Abfällen. Diese Themen werden von den Umweltämtern oder Umweltministerien vorbereitet. In diesen ist man sich einig. Wenn dann die Minister zur Schlussrunde erscheinen, herrscht auch unter ihnen Übereinstimmung.

Aber: Wenn die Ziele dann zuhause umgesetzt werden sollen, zeigen sich die Konflikte mit den Partikularinteressen, vorab mit den Wirtschafts- und Infrastrukturministerien, mit den Anliegen aus Energie und Verkehr. Und es ist dann in aller Regel so, dass die Umweltministerinnen «zuhause» unterliegen. Wie eine verschworene Gemeinschaft klagen sie deshalb alle über die Infrastruktur- oder Wirtschaftsminister in ihrer eigenen Regierung zu Hause. Es ist dies einer der Gründe, dass das Amt eines Umweltministers nicht von besonderer Attraktivität ist. Die Verweildauer eines Umweltministers äusserst kurz. Sie streben nach prestigeträchtigeren Ministerien.Ich war bereits nach anderthalb Jahren der amtsälteste Umweltminister im Kreise der EU-Umweltminister. Alle strebten sie nach Höherem, wie Wirtschaftsminister oder Bundeskanzlerin.

(Deshalb war damals auch mein Ratschlag an grün gesinnte Ministger: Nicht ins Umweltdepartement! Dort sind ohnehin schon alle für die Umwelt, sondern in ein Baudepartement oder ein Energiedepartement!)

In der Schweiz

erlebte ich den Konflikt zwischen Umwelt und Infrastruktur etwas differenzierter: Schon zu Zeiten EVED, also vor der Existenz des UVEK, wurde Umwelt nicht einfach überstimmt.

Es ist eine Eigenheit der auf Konsens und Kompromiss angelegten Kollegialität im Bundesrat, dass im Konfliktfall meist dasjenige Departement obsiegt, welches einen Antrag stellt. Beispiel aus der Zeit vor dem UVEK, als die Umwelt noch beim EDI angesiedelt war: Aus dem (damaligen) BA für Umweltschutz, EDI, dringt ein Antrag auf Moorschutz trotz Widerstand des (damaligen) BA für Strassen durch. Umgekehrt drang ein Antrag aus dem BA für Strassen auf Streckenführung durch ein Gebiet mit schützenwerter Fauna gegen die Einwände des Umweltschutzes durch. Umweltanliegen zeigen sich meist erst in der Reaktion auf die Aktion der anderen Departemente, vor allem der Infrastruktur. Das führte zu einer Bevorzugung der Infrastruktur gegenüber der Umwelt: Das Antrag stellende Departement obsiegt.
Diese Erkenntnisse waren Gründe, dass die Umwelt, die Raumplanung und der Strassenverkehr 1998 in das EVED wechselten und dieses zum UVEK wurde. Dies ermöglichte eine umfassende Nachhaltigkeitsstrategie in einem einzigen Departement. Es wurden in der Folge alle Ämter bei jedem Projekt jedes anderen Amtes von allem Anfang an einbezogen und die Interessenkonflikte wurden nicht erst in einem «high noon» im Bundesrat bereinigt.

Die neu erarbeitete Nachhaltigkeitsstrategie war für alle Ämter verbindlich, sie mussten ihn verinnerlichen und umsetzen. (Einige haben das sehr gründlich getan mit mehreren internen Tagungen. Andere begnügten sich damit, mithilfe des Computerprogramms das Wort Nachfrage durch Nachhaltigkeit zu ersetzen.)

In der Referendumsdemokratie sind die inhaltlichen Diskussionen um das Umweltrecht allerdings wichtiger als die organisatorischen.

• Umweltanliegen in der Demokratie

Als Mitglieder einer Vereinigung, die sich explizit um die Stellung der Umwelt kümmert, sind Sie mit den nachhaltigen Argumenten vertraut. Daher wissen Sie auch, wie schwierig dies im demokratischen Prozess zu vermitteln ist.
Weil das «Ich» als die treibende Kraft für das Abstimmungsverhalten vermutet wird, werden immer wieder Argumente verwendet, die den Stimmenden ihren eigenen Vorteil aufzeigen wollen, wenn sie die Umwelt berücksichtigen. Eine Folge dieser anthropozentrischen Denkweise scheint mir das Urteil des EGMR zugunsten der Klimaseniorinnen: Der europäische Menschengerichtshof schützt die Umwelt. Er sieht Menschenrecht verletzt, wenn die Klimaziele nicht umgesetzt werden.

• Der Umwelt einen ökonomischen Wert geben?

Um die Menschen dazu zu bringen, die Umwelt zu schützen, wird ihr ein Wert zu erkannt. Je nach Hintergrund ist es ein religiöser Wert (Respekt gegenüber der Schöpfung, die Umwelt der Nachwelt weitergeben, wie wir sie geerbt haben), ein ästhetischer Wert (die Umwelt formt unser Befinden, unsere Psyche) oder ein ökonomischer Wert. Dieser wird denn auch errechnet:

Agroscope-Forscher untersuchten die Bestäubungsleistung von Honig- und Wildbienen für die Schweiz. Der daraus berechnete Wert der Bestäubungsleistung liegt zwischen 205 und 479 Millionen Schweizer Franken pro Jahr. Die saisonale Bestäubungsleistung einer Biene lässt sich mit 7.40 Franken beziffern.
(https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-33452.html)

Eine Blaumeise erbringt im Lauf ihres irdischen Daseins - durch das Vertilgen und von Insekten und dem Verbreiten von Samen - eine volkswirtschaftliche Leistung von 157 Franken. Ich verwendete an einer Konferen zu Biodiversität in Doha eine seltene Spinnenart als Argument gegen die Abholzung der Regenwälder in Brasilien, weil man mit ihr ein wertvolles Medikament herstellen kann (also nicht etwa damit, dass sie ein Lebewesen ist).

Aber ökonomische Argumente werden auch gegen Umweltinteressen verwendet: Die Teilstrecke der Autobahn A 5 Biel – Solothurn kam deswegen sehr viel teurer, weil zahlreiche Wildübergänge für Wildschweine und Hasen errichtet wurden und weil die Interessen von dänischen Wattvögeln berücksichtigt wurden, die einmal im Jahr, an Ostern, hier zwischenlanden. Die Frage war dann: Sind uns dies diese Tiere 150 Millionen wert (so viel kostete der eigens dazu errichtete Tunnel)? Doch die Frage ist falsch gestellt: Das illustriert uns der „Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt. Die alte Dame setzte eine Milliarde Franken als Belohnung in Aussicht, wenn ihr Jugendfreund, getötet werde. Die Einwohner wiesen dieses Ansinnen zunächst als amoralisch zurück, begannen dann aber dennoch, damit zu rechnen, dass sich der Wunsch der alten Dame irgendwie doch erfülle, und gaben das Geld zunächst in Gedanken und dann auf Pump aus. Sie hätten es also wieder zurückgeben müssen, wenn der Mann am Leben geblieben wäre. Und so stellten sie sich dann die verhängnisvolle Frage: Kann ein einzelnes Menschenleben eine Milliarde Franken wert sein? Damit tappten sie in die Falle der alten Dame. Richtig hätte die Frage gelautet: „Dürfen wir eine Milliarde annehmen, um einen Mann zu töten?“ Der Sündenfall bestand darin, dass der entgangene Gewinn als Verlust betrachtet wurde. Der Mann war ja am Leben, als die Milliarde für seinen Tod angeboten wurde. Sein weiteres Leben bedeutet keinen Verlust und kostet keine Milliarde.

So mussten wir auch bei der Autobahn richtig fragen: Dürfen wir sie so billig bauen, dass die Hasen und die Vögel keine Chance mehr haben? Die Antwort lautet: Nein, denn die Hasen, die Wildschweine und die dänischen Zugvögel waren alle da, bevor wir unserer eigenen Mobilität zuliebe eine Autobahn bauen wollten.

• Solidarität mit künftigen Generationen

Eine Argumentationsschiene des Poles „Ich“ ist die Solidarität mit unseren Nachkommen:
„Wir tun es für unsere Kinder.“

Wie weit reicht die eigene Identifikation mit unseren Nachkommen? Auf Solidarität mit Kindern und Enkeln, um deren Zukunft wir bangen, ist noch leicht zu pochen. Aber wie steht es mit Generationen in tausend Jahren?

Die Diskussionen um die Endlagerung nuklearer Abfälle zeigt, wie das Mitgefühl, die Solidarität mit der Distanz abnimmt. Das ist zunächst die örtliche Distanz. Im «Dritten Mann» sah Orson Wells von der Entfernung des Riesenrades die Menschen auf dem Platz nur als Pünktchen und hatte deshalb kein schlechtes Gewissen, sie auszulöschen. Diese Abnahme des Mitgefühls erfolgt auch mit der zeitlichen Distanz: Nur alle 1000 Jahre ereigne sich statistisch gesehen ein KKW-Unfall. Dies als Argument für KKW zu gebrauchen, ist zunächst ein versicherungsmathematischer Irrtum: Es könnte sich der Unfall innert der tausend Jahren auch schon morgen ereignen. Aber entscheidender ist: Auch wenn er sich erst in tausend Jahre ereignen würde: Ist dies denn weniger schlimm, als wen er jetzt geschähe? Wo bleibt die Solidarität mit den Menschen in tausend Jahren?

Egoistische Demokratie und ohnmächtige Umwelt?

Ist Demokratie nur von Egoismus geleitet und verliert sie das Verständnis für das übergeordnete Gemeinschaftsziel aus den Augen? Ernst Fehr, Ökonom und Glücksforscher, hat in einem Interview kürzlich richtiggestellt: Nur 25% der Stimmbürger folgen allein egoistischen Motiven, 35% stimmen altruistisch und 45% sind bereit auf Wohlstand zu verzichten, wenn der Verzicht gleichmässig erfolgt und man so einen Beitrag zur Gleichheit leisten kann (NZZ 20.6. 24). Die Umwelt hat also doch noch eine Chance.

Zur Überzeugungsarbeit dürfen wir durchaus auch Referenzen an den Egoismus und hin und wieder ein kleines Quantum Populismus in Anspruch zu nehmen; deswegen liessen Sie heute auch einen Politiker zu Worte kommen. Die wesentlichen Grundlagen bilden aber wissenschaftliche Erkenntnisse, Argumente der Vernunft und sachliche Auseinandersetzungen. Diese übernehmen jetzt meine Nachrednerinnen und Nachredner. Ich wünsche Ihnen ein erfolgreiches Geburtstagsfest.