Mitten in der Reformation
Moritz Leuenberger - 500 Jahre Calvin, Genf 14. Juni 2009
Wieso nur luden Sie statt eines Theologen oder eines Historikers einen Politiker? Die Fülle an Informationen, Exegesen und tief schürfenden Werken über Calvin erschlägt einen Minister, dessen Horizont im A4-Format abgesteckt ist. Google findet in 0,9 Sekunden 48'800'000 Hinweise auf Calvin.
Und wenn ich im Historischen Lexikon der Schweiz lese, Calvin sei der Vater der klassischen französischen Sprache, plagen mich Zweifel: Bin ich der geeignete Redner?
Bin ich der geeignete Redner, der ich aus Bern komme?
„Die Kirche von Bern hat unsere Kirche verraten, sie haben mich dort kaum geliebt." (Discours d'adieu aux ministres, OS II, 404 (Opera selecta München 1926ff.).
Jean Calvin wahrte Distanz zu Bern: Als die Berner verlangten, auch die Genfer mögen vier Festtage einhalten - Ostern, Auffahrt, Pfingsten und Weihnachten -, stimmte er nur zu, wenn nach dem Gottesdienst wieder gearbeitet würde. Wir verstehen jetzt, warum nicht Genf die Bundesstadt der Beamten wurde, sondern Bern.
Doch es gibt auch Aussagen Calvins, die mich bestärkten zu kommen. Als Medienminister weiss ich, was Calvin fühlte, als er die Journalisten präzise umschrieb:
„Bevor Gott die Welt erschuf, schuf er die Hölle für die Neugierigen."
Auch der Bundesrat wird treffend umschrieben:
„So bringt es also die ... Mangelhaftigkeit des Menschen mit sich, dass es sicherer .... ist, wenn mehrere das Steuerruder halten, wenn sie also einander beistehen, sich gegenseitig belehren und ermahnen. Und wenn sich einer ...erhebt, sind mehrere Aufseher..... da, um seine Willkür im Zaun zu halten." (IV. Buch der Institutio (20,8)
Ich kann Ihnen bestätigen, so funktioniert es im ganzen Bundeshaus.
Der Calvinismus wurde zum Vorbild demokratischer Staatsführung und Machtteilung, wie wir sie in unserer Demokratie der rotierenden Präsidien heute noch praktizieren.
Was Anmassung der Macht bedeutet, hat Calvin erfahren. Das hatte nichts mehr mit der Botschaft Christi zu tun, als Religionsherrscher nur eigenen Vorteilen frönten, als die Kirche die Gläubigen zur eigenen Bereicherung plünderte, als sie nicht mehr Mass hielt und sich um Armut und Elend einen Deut kümmerte.
Calvin hielt diesen Auswüchsen die ursprüngliche Botschaft Christi entgegen und trieb die Reformation voran.
Max Weber hat die Ethik der Reformation mit dem Geist des Kapitalismus in Verbindung gebracht. Allerdings beruht Webers Theorie auf einem idealisierten Kapitalismus. Heute denkt beim Begriff Kapitalismus gewiss niemand an Calvin. Kapitalismus wird heute spontan mit seinen kleptomanischen Auswüchsen verknüpft.
Aber es gab und gibt auch einen anderen Kapitalismus:
Es gab die Überzeugung des sozialen Kapitals bei Duttweiler oder bei Rockefeller junior, welcher die Thesen über das Recht formulierte, nach individuellem Glück zu streben, und dass jedes Privileg eine Pflicht beinhalte.
Dieser Kapitalismus war ethischen Grundsätzen verpflichtet, mit denen er den Staatssozialismus herausforderte und ihm die eigene moralische Überlegenheit beweisen wollte. An der Berliner Mauer bezichtigte John F. Kennedy in einer epochalen Rede den Kommunismus des moralischen Bankrotts.
Die kapitalistische Marktwirtschaft obsiegte tatsächlich. Es fiel der eiserne Vorhang, es fiel die Mauer in Berlin. Wo früher John F. Kennedy dem Kommunismus ein Ende prophezeite, triumphierte nun Bill Clinton im Namen des siegreichen freien Marktes. Jetzt sei die Freiheit schlechthin ausgebrochen, jubelte er, wörtlich: „Alles ist möglich".
Die Globalisierung der Wirtschaft nahm rasch und ungezügelt ihren Lauf. Doch die Politik hielt mit dieser Entwicklung nicht Schritt, teils weil sie es nicht konnte, vor allem aber weil sie es nicht wollte.
„Weniger Staat", hiess die Losung, auf dass das Geld ungestört arbeite. Dow-Jones und SMI wurden zu Fixsternen der gesamten Lebensorientierung.
So wie hundert Jahre zuvor der Manchesterliberalismus soziale Verantwortung vernachlässigte, missachtete nun der Neoliberalismus demokratische Strukturen, die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen, ja die Substanz des Kapitals selber.
Reserven wurden geplündert, Pensionskassen ausgeblutet. Vertrauen war kein Wert mehr, Masslosigkeit und Gier waren die Triebfedern. Aus Banquiers wurden Bankers. In einer moralischen Leere wucherte eine wirtschaftliche Anarchie zur grössten Finanz- und Wirtschaftskrise.
Doch blasen wir nicht zur Hexenjagd auf Banker. Masslosigkeit gibt nicht nur in ihrer Welt. Zügellosigkeit herrscht überall.
Wir übernutzen die natürlichen Ressourcen und überhitzen das Klima und steuern so in eine Krise der Umwelt und der Humanität.
Wir haben den Respekt gegenüber der Natur vergessen und die Solidarität zu den Ärmsten verdrängt. Wir haben das Mass der Freiheit und die Orientierung verloren.
Es gebietet sich eine Reformation. Wir müssen unseren Lebensstil gegenüber der Natur reformieren, wir müssen die Marktwirtschaft reformieren, wir müssen weltweit Armut verhindern und wir müssen neu um Werte bekennen, an denen wir uns orientieren.
Eine Reformation unseres Lebensstils
Vor 500 Jahren sagte Calvin:
„Denn wenn wir leben sollen, so müssen wir auch die zum Leben erforderlichen Mittel benutzen. Wir müssen also Mass halten, um jene Mittel mit reinem Gewissen verwenden." (Inst. III.10.1) (Fuchs S. 191).
Heute verbrennen wir fossile Brennstoffe, zerstören die Atmosphäre, wir plündern Wälder und Meere. Würde jeder Mensch auf der Erde gleichviel Energie brauchen wie wir Menschen in Europa, bräuchten wir drei Planeten. Jeden Tag verschwindet eine Tier- oder Pflanzenart. Fleischproduktion und Biotreibstoffe führen zu Mangel an Wasser, Ackerland und Nahrung. Wir plündern die Erde aus.
Unser Planet hat Grenzen. Wenn wir ihn nicht nachhaltig bewirtschaften, zerstören wir die Grundlagen unseres Lebens. Ohne natürliche Ressourcen können wir keine soziale Welt schaffen und auch keine Wirtschaft erblühen lassen. Daraus ergibt sich die Pflicht, die Schöpfung, die Vielfalt der Fauna und Flora zu achten und weiter zu vererben.
- Ethisches Verhalten gegenüber der Natur gebietet sich also in unserem ureigenen Interesse. Wir nützen damit auch uns selber.
Globale Solidarität
Die Bekämpfung von Armut und Hunger war ein zentrales Anliegen von Jean Calvin. Das beste Mittel gegen Bettelei bestand für ihn darin, die wirtschaftlichen und moralischen Ursachen zu bekämpfen und allen Erziehung und Arbeit zu ermöglichen.
Heute gibt es neben unglaublichem Reichtum bitterste Armut. 1,2 Milliarden Menschen leben mit weniger als einem Dollar pro Tag, drei Milliarden mit weniger als zwei Dollar. Rund ein Drittel der Weltbevölkerung hat keinen Zugang zu sauberem Wasser, die meisten afrikanischen Bauern haben kein Wasser, um ihre Felder zu bewässern. Armut und Hunger sind ein humanitärer Skandal. Reichtum ist mit Macht und Einfluss verbunden, und wenn diese zum Selbstzweck verkommen, begründen sie Unfreiheit für die anderen und damit eine Ungleichheit, die nicht legitimiert werden kann.
Vor hundert Jahren war der Sozialstaat eine ethische Korrektur der industriellen Revolution. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die soziale Marktwirtschaft geschaffen. Mit der Globalisierung überwanden dann die Märkte nationalstaatliche Grenzen und entbanden sich so sozialer Verpflichtungen.
Doch heute hat immer noch jeder Nationalstaat seine eigene Sozialpolitik, schottet sich und seine Bürger ab gegen Sozialdumping, mit anderen Worten: er sperrt Brüder und Schwestern aus ärmeren Ländern und Kontinenten aus. Eine menschengerechte Sozialpolitik jedoch bedingt globale Reformation. Die Wirtschaft hat die Grenzen überwunden. Die Solidarität noch immer nicht.
- Der Abbau weltweiter Ungleichheit erfolgt in unserem ureigenen Interesse. Soziale Spannungen führen zu Krieg und Revolten. Sie zu vermeiden nützt allen.
Eine Reformation der Marktwirtschaft
Damit Arme und Arbeitslose Beschäftigung fänden, nahm Calvin vor 500 Jahren die Politik und die Wirtschaft in die Pflicht. Er erreichte einen Kredit der Stadt Genf zur Errichtung einer Tuch- und Samtfabrikation. Später übernahm die Uhrenindustrie diese Funktion. Inspiriert von Calvin tat Genf damals, was in Zeiten der Krise noch heute aktuell ist, es liess mit Konjunkturpaketen die Wirtschaft erblühen.
Wenn wir das heute auch tun, so müssen wir es, wie es Calvin auch tat, nach ethischen Gesichtspunkten tun und nicht einfach wieder alles ankurbeln, damit es so läuft wie vorher, nämlich aus dem Ruder.
Der freie Markt als solcher nimmt weder auf die Schwachen noch auf die Umwelt Rücksicht. Diese Rücksichtslosigkeit macht ihn zukunftsblind und ziellos. Die wertfreie Marktwirtschaft führt nicht automatisch zu Demokratie und Menschenrechten. Das ist inzwischen gründlich widerlegt. Die These, dass die Summe aller Einzelinteressen automatisch zu Gemeinwohl führe, ebenfalls.
Ohne Vertrauen keine Gemeinschaft und keine wirtschaftliche Prosperität. Handel besteht nicht darin, andere zu übertölpeln. Handel muss fair sein. Es ist ein Privileg, mit investiertem Geld Gewinn erzielen zu können. Es ist aber verwerflich, Geld einzig und allein nach den abstrakten Kriterien Risiko und Gewinn anzulegen und nicht danach zu fragen, wozu die Investition denn eigentlich verwendet wird. Der Preis eines Produktes ist nicht sein wichtigstes Merkmal, ebenso wichtig sind die Umstände, unter welchen es hergestellt wurde, die Arbeits- und die Umweltbedingungen.
Wir haben wohl das Recht zu arbeiten und zu wirtschaften, wir haben sogar die Pflicht dazu.
„Der Mensch ist zur Tätigkeit, nicht zur trägen Untätigkeit bestimmt." (Kommentar zu Genesis 1,15 (Fuchs S. 194)
Doch besteht der Sinn nicht im Gewinn als solchem. Ökonomischen Werten wird im heutigen Gesellschaftsleben einseitig gefrönt. Sofortige Renditen und kurzfristige Gewinnentwicklung als Ziel sind letztlich nichts anderes als ein Tanz um das goldene Kalb.
- Nachhaltiges Wirtschaften erfolgt in unserem ureigenen Interesse. Den Gewinn langfristig anzustreben und ihn verantwortungsvoll für die Gemeinschaft einzusetzen, bedeutet auch wirtschaftlichen Erfolg.
- Ohne Regeln und ohne selbstverantwortliches Verhalten zerstört sich der freie Markt selbst. Regulierung und Ethik sind daher Verbündete des Kapitalismus.
Es ist dieser Erfolg ethischen Verhaltens, den Max Weber als Geist des Kapitalismus beschrieben hat. Immer wieder wird der leise Vorwurf erhoben, die Grundlage dieses Erfolgs beruhe auf dem Protestantismus, der Askese nur predige, um wirtschaftlichen Erfolg zu erlangen. Dieser Vorwurf ist unreflektiert, denn die Reformation wollte eben nie Kasteiung, nicht karges Leben, sondern vernünftiges Leben, das mit Erfolg, Freude und Glück verbunden ist.
Markt und Ethik können sich verbinden. Es werden diejenigen ökonomisch erfolgreich sein, welche sich ethisch orientieren. Das war vor 500 Jahren so wenig eine Schande, wie es heute keine ist. Die Schande besteht vielmehr darin, nach wirtschaftlichem Erfolg zu streben, ohne andere Kriterien zu achten.
Eine Reformation der Werte
Jetzt, wo das Pendel zurückschlägt, moniert mancher Politiker das Primat der Politik, auch ich. Doch eine Reformation des Verhaltens kann nicht allein auf Vorschriften basieren. Ethisches Denken und Handeln kann nicht amtlich verordnet werden, sondern baut auf Eigenverantwortung, auf Freiwilligkeit, auf dem Einsatz der Citoyens.
Ethik muss als endogener Faktor wirken, nicht nur in der Freiwilligenarbeit, sondern in jedem Beruf, auch in der Wirtschaft und den Medien.
Wirtschaftlicher und politischer Pragmatismus füllen das moralische Vakuum nicht aus. Staaten und Staatengemeinschaften sind auf moralische Grundlagen angewiesen. Kulturen, Religionen bilden seit jeher dieses ewige Grundwasser, das eine Gemeinschaft erst ermöglicht. Ohne Werte, an denen die Menschen sich orientieren und nach welchen sie leben, können Staaten nicht funktionieren. Doch worauf beruhen diese Werte?
Längst nicht mehr allein auf dem Christentum und seinen Konfessionen. Juden, Moslems und Hindus gestalten unsere Kultur ebenso mit wie Atheisten und Agnostiker. Wir sagen, unsere Welt sei säkularisiert, verweltlicht also. Aber nicht nur die Religion, auch politische Ideologien haben an Bedeutung verloren, seit der Wettlauf zwischen Kapitalismus und Kommunismus beendet ist.
Nicht dass wir Ideologien nachtrauern - wodurch aber wurden sie ersetzt? Eitle Beliebigkeit machte sich breit, Einschaltquoten und Spass wurden zu Zielmarken, Wirtschaftspragmatismus ohne moralische Grundlagen setzte sich durch.
Eh der Hahn kräht, werden in der heutigen Orientierungslosigkeit all die Werte, welche die Reformation erneuert hat, dreimal verraten. Wirtschaftlich effiziente Staaten werden unverhohlen bewundert, obwohl sie keine demokratischen Strukturen kennen, obwohl sie Menschenrechte verletzen und Umweltschutz vernachlässigen. Errungenschaften des Roten Kreuzes, die auch eine Folge der Reformation sind, schwinden in unserem Bewusstsein. Wenn heute in Sri Lanka der Schutz der Zivilbevölkerung mit Füssen getreten wird, die weisse Fahne nicht als Kapitulation anerkennt wird, wenn medizinische Helfer kriminalisiert werden, dann erfolgt kein empörter weltweiter Aufschrei. Es herrscht nur die stille Trauer der geflüchteten Tamilen, die bei uns arbeiten.
Nein, wir können uns nicht mit dem Jubelruf begnügen: „Alles ist möglich!" Eine Welt, in der alle Menschen in Frieden leben können, braucht mehr als Beliebigkeit, nämlich Arbeit, Einsatz und Solidarität. Dieses Ziel wurde vor 500 Jahren reformiert und wir rufen es uns heute wieder in Erinnerung.
Reformation ist nicht Revolution, die die Absicht hat, eine neue definitive Ordnung zu etablieren. Reformation ist sehr viel anspruchsvoller. Reformation ist die ewige Unrast, welche das Gewissen befragt und sich neu orientiert, die neu Geschaffenes stets wieder in Frage stellt und wiederum neu gestaltet. Das bedeutet auch Unsicherheit und Ungewissheit. Doch gerade sie können eine Chance zur kreativen Gestaltung der Welt sein.
Wir stehen mitten in der Reformation. Das ist eine Hoffnung. Sie dient nicht nur dem Andenken Calvins. Sie nützt uns allen. Lasst uns für diese Hoffnung arbeiten.