Der Teufel am Gotthard
«Der Gotthard wurde von Gott geschaffen. Und am Gotthard wirkt
der Teufel.» Das schreibt Moritz Leuenberger in seinem exklusiven
Essay über den neuen TUNNEL tief im Herzen der Schweiz.
TEXT MORITZ LEUENBERGER
Gott versetzte die Quellen der grössten europäischen Flüsse in unser Land, als wollte er uns sagen: «Wahrt Eure Verantwortung für diesen Kontinent!» Doch als wir uns mit Passübergängen an den Gotthard wagten, rächte sich der Teufel mit tödlichen Steinschlägen, als wollte er uns sagen: «Entweiht meinen Berg nicht für Euren Mobilitätswahn!»
Der Gotthard zieht an, und er schreckt ab. Unzählige Schriftsteller faszinierte er. Pasternak, Kafka, André Gide, Hermann Hesse, Francesco Chiesa, Erich Maria Remarque, Max Frisch, Venturini, Giovanni Orelli. Goethe sah ihn als weltoffene Kreuzung, die zu allen Horizonten der Welt führe, andere als abweisendes Gebirge, wieder andere als wohlige Heimat, Pietro Bellasi gar als «Gebärmutterhöhle, aus der die Menschheit entsprungen ist und in der man bei Gefahr Zuflucht suchen kann».
Der Pakt mit dem Teufel Das Bild von Heinrich Danioth in der Schöllenen zeigt,
wie die Urner mit einer Geiss den Teufel reinlegten, um einen Weg über den Gotthard
zu bekommen.
Der Gotthard ist Berg und Pass, Réduit und Öffnung, Abschottung und Weltoffenheit. In ihn wurden in den beiden Weltkriegen Bunker und Kavernen gehauen, um sich vor Feinden zurückzuziehen. Über ihn wurden seit Jahrhunderten Passstrassen gebaut, die Römer querten ihn, im Mittelalter säumten Maultiere die Teufelsbrücke. Der Mailänder Carlo Cattaneo träumte schon vor 200 Jahren von einer Eisenbahn vom Hafen von Genua über den Gotthard: «Der Gotthard verdient einen Platz auf der Weltkarte. Er kann zusammen mit dem Suezkanal Europa mit Asien verbinden.» Der Gotthard als Vorläufer der Globalisierung?
Sie wurde dann tatsächlich gebaut, die Bahn über den Gotthard. Immer noch ist sie unser Nationalstolz. Ihr folgte später der 17 Kilometer lange Autotunnel (der Stau an Ostern ist meist noch etwas länger). An der feierlichen Eröffnung des Strassentunnels schwor der Bundesrat: «Er wird niemals ein Korridor für den Schwerverkehr!»
Wie so manches politische Versprechen fiel auch dieses in sich zusammen. Die Lawine der Lastwagen schwoll an. Die Alpeninitiative verlangte, der alpenquerende Verkehr sei von der Strasse auf die Schiene zu verlagern. Nach einem heftigen Abstimmungskampf wurde dies in unserer Verfassung festgeschrieben.
Wiederum zeigte sich, wie der Gotthard Gegensätze anzieht. Die Initiative erhielt nämlich Unterstützung aus den verschiedensten Kreisen: Die Bergbewohner wollten ihre Täler von Verkehrslärm befreien. Städter und Umweltschützer wollten die Alpen als ihr Erholungsgebiet wahren. EU-Gegner wollten mit dem Alpenschutzartikel ein bilaterales Abkommen mit der EU verhindern. So vereinten sich um den Mythos Gotthard Städter und Älpler, Konservative und Umweltschützer, EU-Gegner und Vertreter einer nachhaltigen Verkehrspolitik.
Eine Folge dieser Abstimmung war die Neat mit dem längsten Tunnel der Welt. Er ist 57 Kilometer lang und wird dieses Jahr in Betrieb gehen. Bei seinem Durchstich am 15. Oktober 2010 hielt der EU-Kommissar eine Ansprache, der die ganze Schweiz am Fernsehen andächtig lauschte, und die EU wäre aus lauter Begeisterung beinahe der Schweiz beigetreten.
Aber der Gotthard stiftet nicht nur göttliche Versöhnung, sondern auch teuflischen Streit. Der erste Eisenbahntunnel war aufs Heftigste umstritten.
Der neue Basistunnel sorgte während fünfzehn Jahren für Streit und Zoff im Parlament. Die Auseinandersetzungen mit der EU waren heftig. Sie verlangte eine Infrastruktur für Lastwagen durch die Alpen und wollte unsere LSVA lange nicht akzeptieren. Die Frage eines zweiten Strassentunnels teilte unsere Verkehrspolitik soeben erneut in zwei feindliche Lager.
Der Gotthard fasziniert und spornt stets von Neuem dazu an, die Natur zu domestizieren. Die Menschen wollen sich stets schneller bewegen und scheuen keine Innovation, um ihren Traum von Mobilität zu verwirklichen.
Die Geschichte der Mobilität über die Jahrhunderte können wir am Gotthard heute plastisch sehen. Wie freigelegte Steinschichten erscheinen die Sedimente der Verkehrsgeschichte: die Teufelsbrücke in der Schöllenenschlucht, die 39 Haarnadelkurven der Tremola, die Starkstromleitungen über den Pass, die Kehrtunnel und Steinbrücken der Eisenbahn. Darüber wölben sich die gigantischen Autobahnbrücken zum einröhrigen Autotunnel. Und die Eingangsportale, die in den legendären Drachenschlund führen, in den längsten Tunnel der Welt. Mit jeder neuen Phase graben sich die Epochen der Mobilität tiefer in die Topografie ein. Der erste Pass führte auf 2100 Meter über Meer. Der neue Basistunnel liegt 2000 Meter unter den Bergkuppen.
Mit jeder tiefer liegenden Infrastruktur wird die vorherige, höher gelegene musealer. Die Postkutsche von einst wird für Nostalgiefahrten verwendet. Das Hospiz ist zu einem «museo nazionale» geworden. Die früher streng geheime Gotthardfestung ist ebenfalls zu einem Museum mutiert. Die Einwohner entlang der jetzigen Bahnstrecke wollen nicht museumsreif werden und wehren sich daher für ihre Bahnlinie, damit sie auch nach Eröffnung des Basistunnels erhalten bleibt. Sie propagieren sie als Unesco-Kulturerbe.
In diesem Jahr aber feiern wir die vereinigende Kraft des Gotthards, der die direkte Demokratie zu einem Meisterwerk animierte. In vielen eidgenössischen Volksabstimmungen haben wir über die Neat abgestimmt, über ihre Streckenführung, über die Verkehrsverlagerung von der Strasse auf die Schiene, über den Alpenschutz, über die LSVA und über die Verträge, die mit der EU nötig waren. Über Jahrzehnte wurde die Vision eines Basistunnels unter dem Gotthard für die Eisenbahn verfolgt. Dabei ist es nie um einen Weltrekord gegangen, sondern um eine Verbesserung des nationalen Zusammenhaltes, darum, die Italienisch sprechende mit der deutschsprachigen Schweiz besser zu verbinden. Dieser Tunnel symbolisiert die demokratische Verantwortung aufgeklärter Staatsbürgerinnen und Staatsbürger.
Mag der Gotthard selber Gottes Werk und des Teufels Beitrag sein. Sein Basistunnel ist ein Werk der direkten Demokratie.