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Wenn der Wähler Trost braucht


US-Wahlen 2012

Artikel erschienen im Tagesanzeiger und Bund am Morgen nach der Wahlnacht in den USA, 7. November 2012
Moritz Leuenberger

Hat es Obama geschafft? Jetzt, wo ich diesen Beitrag schreibe, weiss ich es noch nicht und bin etwas nervös.

Es hätten, so wurde auch in renommierten Leitartikeln kommentiert, die himmelhoch jauchzenden Erwartungen unter seiner Präsidentschaft keine Gestalt angenommen. Kann es wirklich sein, dass seine Wiederwahl gefährdet ist, weil die damalige Begeisterung in den vier Jahren seiner Arbeit verebbt ist?

 

In allen Demokratien wiederholt sich das stets gleiche Ritual: Ein Wahlsieger wird uneingeschränkt gefeiert und es macht sich verständnislose Enttäuschung breit, sobald der Hoffnungsträger in der Tagespolitik mit Widerständen und Realitäten konfrontiert ist, wenn er Kompromisse eingehen oder gar umdenken muss. Es gibt Kandidaten, die sind ob solcher Entwicklungen nicht ganz unschuldig, wenn sie das Blaue vom Himmel versprechen und die Wähler in einen grenzenlosen Rausch schaukeln. Auch Obama löste vor vier Jahren zwar Hochgefühle aus, doch hat er gleichzeitig vor Illusionen gewarnt und betont, dass er nur versuchen könne, seine Ideen umzusetzen. In der Wahlnacht in Chicago hat er ganz ausdrücklich die Grenzen seiner Möglichkeiten thematisiert.

Wie kommt es, dass trotzdem immer wieder eine Mehrheit von Wählern und Wählerinnen in ihrem Idol einen Messias, der den Himmel auf Erden holen wird, sich dann aber abwendet, wenn sich die eigenen Träume als Illusionen erweisen. Die Wähler schunkeln sich in eine Euphorie, heben vom Hoffnungsträger himmelwärts ab, ohne an die spätere Landung zu denken, um auf dem Boden der Realpolitik zu zerschellen. Ist das nicht grenzenlose Naivität? Muss ein Wähler nicht auch wissen, zu was ein Parlaments-, ein Regierungsmitglied und auch ein Präsident der USA in der Lage ist und wozu vernünftigerweise nicht?

Kommt dazu: Im Wahlkampf werden vom Kandidaten kühnste Visionen erwartet, ansonsten er als perspektivenlos gilt. Sobald er aber regiert, wird er nur noch an konkreten Resultaten gemessen. Öffentliche Gedanken über Grundwerte oder philosophische Perspektiven, wie etwa Obamas Rede über das Verhältnis der westlichen Welt zum Islam, werden als „schöngeistig“ und als überflüssig verspottet, nicht nur von politischen Gegnern, sondern auch von früheren Bewunderern seiner Rhetorik. Einmal im Amt soll der Präsident nur noch Resultate liefern.

Jede politische Umsetzung ist durch Machtverhältnisse begrenzt. In einer Demokratie sind Regierungen zu Kompromissen gezwungen und wenn eine Bewegung wie die Tea Party jedes Zugeständnis verweigert, muss zur schier unerträglichen Belastung werden. Die Auseinandersetzung mit solchen Gegnern zehrt an den Nerven eines intelligenten Menschen. Dass Regieren so nicht eitel Freude macht, sollte ein Präsident gelegentlich auch sagen oder zeigen dürfen. Wer kann es ihm verargen, in dümmlichen Diskussionen mit haarsträubenden „Argumenten“ zuweilen auch etwas mürrisch Missmut zu zeigen. Die meisten Wähler von Obama verstehen das wohl recht gut, nicht aber die Mehrheit aller Wähler. Und sie ist es, welche die Meinungsumfragen bestimmt. Deswegen schlingerte der Wiederkandierende in bedrohliche Umfragewerte, weil er dem Mehrheitsgeschmack darüber, wie TV-Streithähne Emotionen zum Ausdruck bringen sollten, nicht entsprochen hatte.

Doch dann kam Sandy. Seine Folgen für den Wahlkampf wurden intensiver beobachtet als die materiellen Verwüstungen. (Dass Sandy auch in der Karibik wütete, wurde auch bei uns kaum zur Kenntnis genommen.)

Wieso helfen Katastrophen immer dem amtierenden Präsidenten oder Kanzler, wenn er nicht gravierende Fehler begeht wie Georg W. Bush in New Orleans oder Berlusconi in Aquila? Eine derart herausragende Leistung ist es ja auch nicht, am Ort des Geschehens zu erscheinen, den Helfern zu danken und den Opfern Beileid auszusprechen. Ich habe die Bedeutung solcher Symbolik lange unterschätzt. Ich glaubte noch beim Gotthardunfall, am Ort des Brandes mit einer Medienkonferenz nur zu stören und erschien deshalb nach Meinung vieler Kommentare zu spät. Nicht nur die betroffenen Opfer, auch die verunsicherten Bürger und Bürgerinnen wollen sehen und hören, was ihr politischer Stellvertreter denkt und fühlt, und er ist ihnen dies schuldig. Als ich später beim Attentat in Zug oder beim Flugzeugabsturz der Crossair sofort an die Schreckensorte eilte, durfte ich dafür Dankbarkeit im ganzen Land entgegennehmen. Nach einem Schock, wie ihn eine Katastrophe für ein Gemeinwesen auslöst, sind die Bürger und Wähler anlehnungsbedürftig, möchten dass ihre Gefühle repräsentativ in Worte gekleidet werden, auch wenn das nur Worte der Hilflosigkeit sind.

Es ist also nicht nur eine Illusion der Wähler, von einem gewählten Politiker zu erwarten, er könne jeden in ihn gesetzten Traum verwirklichen, sondern es wäre auch eine Illusion des gewählten Politikers, im Bürger einen nur rational denkenden, die Ursachen und Folgen einer Katastrophe kühl analysierenden Citoyen zu sehen. So wie die Wähler die begrenzten Möglichkeiten ihrer Regierung anerkennen müssen, so muss auch der Regierungspolitiker seine Wähler als Menschen mit Gefühlen und Hilflosigkeit ernst nehmen und diesen Bedürfnissen entgegenkommen. So wie er selber keine Wunder vollbringen kann, so kann er vom Wähler und Bürger nicht verlangen, die Emotionen, mit der die Gemeinschaft konfrontiert ist, alleine zu bewältigen. Deswegen nimmt er in Zeiten der Wahlen die Sehnsucht nach Illusionen ebenso auf wie in Zeiten der Trauer das Bedürfnis nach Geborgenheit.

Solche Rituale politischer Symbolik mit vernünftigem Augenmass zu pflegen und nicht in Populismus zu verfallen, ist die Kunst ehrlicher Politik. Ein Kandidat, der seine Wähler in die falsche Vorstellung wiegt, es gebe einfache Lösungen, ist nicht ehrlich. Er kann sich zwar in den jubelnden Massen gefallen, so wie sich diese umgekehrt in ihren Vorstellungen bestätigt sieht. Beide schaukeln sich so zu Illusionen ohne jeden Realitätsbezug hoch. Ein Regierungsmitglied, das sich bei einer Katastrophe nur gerade in Schuldzuweisungen und dem Ruf nach harter Bestrafung ergibt, schürt billige Polemik. Beiden Versuchungen ist Obama nicht erlegen.

Dennoch ist der Wahlkampf in den USA beängstigend. Ungeheuerliche Geldsummen werden nach tiefenpsychologischen Analysen der Massen und ihrer Wünsche eingesetzt. Der Wahlkampf schärft nicht das politische Bewusstsein. Das Bemühen um die angeblich „unentschlossenen“ Wähler (kann jemand nach einem beinahe zweijährigen, heftigsten Wahlkampf in allem Ernst immer noch unentschlossen sein?) führt zu einer Verdrängung der politischen Inhalte und zu einer Einmittung des politischen Stils. Kurz nach der ersten TV Debatte mit Romney erwirkten die professionellen Spindoctors, dass überall nachgeschnattert wurde, Obama habe schlechter abgeschnitten als Romney, bis dies wie ein Fussballresultat feststand. Hauptsächliche Gründe für die Niederlage waren Mimik und Gestik. Wer im TV  nicht mehrheitsgefällig gestikuliert, fällt durch. Wer den Zeigefinger besser einsetzt, wird der bessere Präsident! So konzentriert sich die Auseinandersetzung auf stilistische Nebenfragen wie die Gestik und blendet Inhalte aus, wie den freien Waffenkauf, weil ihn eine Mehrheit befürwortet. Zum Glück war Obama lernfähig und konnte sich dem Mainstream, wie ihn die Meinungsumfragen behaupten, in den folgenden Duellen anpassen.

Professionelle Meinungsforschung verbunden mit der sklavischen Unterwerfung durch die Politik stärkt den puren Opportunismus. Auch wenn wir annehmen, die Umfragen seien repräsentativ, was ich oft bezweifle, analysiert sie die öffentliche Meinung nicht nur, sondern verändert sie. So wie auf einem Schiff mit leichter Schlagseite alle nicht befestigten Container auf die eine Seite rutschen und zum Kentern führen, kippt die öffentliche Meinung angesichts von Umfragen auf die eine Seite der anfänglich knappen Mehrheit und vervielfacht diese so. Die paranoide Ausrichtung auf Umfragen hat auch bei uns längst Platz gegriffen. Ein Interview, eine Rede wird oft weniger auf die politische Überzeugung durchkämmt, sondern danach, wie eine Aussage zugespitzt, falsch gedeutet, wer darauf wie reagieren könnte. Es richtet sich der Inhalt nach möglichen verqueren Deutungen. In der verminten Zone des Misstrauens wachsen dann nur noch abgeschliffene Phrasen, um ja alle Irrtümer oder Falschinterpretationen zu vermeiden. Das führt zu einer gleichförmigen und mutlosen Kommunikation, die auch den Inhalt der Entscheide steuert.

Trotzdem habe ich Hoffnung, denn die Auswüchse des amerikanischen Wahlkampfs werden bei uns kritisch begleitet. Die überwiegende Skepsis gegen die Volkswahl des Bundesrates wird oft mit einem Hinweis auf die USA begründet . (Ich jedenfalls hätte es ohne intensiven Mimik- und Lächelkurs niemals geschafft... )

In einer direkten Demokratie wählen die Bürger nicht nur, sondern sie stimmen mehrmals im Jahr über viele Sachgeschäfte ab und setzen sich stets mit aktuellen politischen Fragen auseinander. Das schafft einen realistischeren Bezug zu den Möglichkeiten einer Regierung im Kanton und im Bund. Die direkte Demokratie ist auch mitursächlich dafür, dass wir kein Zweiparteiensystem haben. Dieses führt konsequenterweise zu einem hauptsächlichen Kampf um die sogenannte „Mitte“, um die unentschlossenen Wähler oder um Schwankstaaten. Dies wiederum bedeutet eine inhaltliche Annäherung der Wahlprogramme der beiden Parteien.

Selbstverständlich garantiert die direkte Demokratie nicht eine bessere Politik. Auch bei uns hat finanzielle Potenz einen gewaltigen Einfluss, nicht nur via Lobbying, auch bei Wahlen und Abstimmungen. Und umgekehrt ist in den USA ist der politische Einsatz von Freiwilligen nicht nur bei den Wahlen, sondern auch bei Sachproblemen wie Umwelt- oder Sozialfragen gewaltig. Ich möchte mir die Vision vom aufgeklärten Citoyen jedenfalls nicht nehmen lassen, weder in der Schweiz und auch nicht in den USA. Deswegen bin ich mir trotz aller Nervosität beinahe sicher:

Obama hat es geschafft.