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Ein Liebesbrief


Moritz Leuenberger - Die Zeit, 17. März 2011

Warum Hans Magnus Enzensbergers Streitschrift zur EU von EU-Gegnern missbraucht werden könnte

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Kein Zweifel, das »Sanfte Monster Brüssel« wird die Schweiz erobern. Den EU-Gegnern wird es als Fundgrube für Zitate zu dienen, um genüsslich gegen den Bürokratismus der EU vom Leder zu ziehen. Die genormten Gurken werden, obwohl die Vorschriften längst aufgehoben sind, ebenso als Lachnummer dienen, wie die Glühbirnen, von denen auch die Schweizer Abschied nehmen müssen. Dass mit der »Entmündigung Europas« auch die Entmündigung der Schweiz einhergeht, weil diese den Weg des »autonomen Nachvollzuges« geht, diesen Widerspruch in sich selber, wird von den Schweizer EU-Gegnern ausgeblendet werden.

 

Auch wer mit dem offiziellen Parteiprogramm der SP den Kapitalismus überwinden will, wird aus dem Buch rezitieren können, denn Enzensberger analysiert richtigerweise, wie die global agierende Wirtschaft und ihr Wertediktat ein so politisches Gebilde wie die EU im Würgegriff halten.

 

Doch auf diese beiden Aspekte kann Enzensbergers Streitschrift  nicht reduziert werden. Er erbietet der EU durchaus seine Referenz, sie ist für ihn ein Werk, das Kriege innerhalb ihrer Grenzen zum ersten Mal seit Jahrhunderten nachhaltig zu bannen vermochte – eine Leistung, die den meisten zur Selbstverständlichkeit geworden ist, auch in der Schweiz, die von der geschaffenen Stabilität ebenfalls profitiert. Der Autor belässt es nicht dabei, den Bürokratismus als ein Krebsgeschwür zu geisseln, sondern er lobt auch die großen Fortschritte, welche die EU den Konsumenten gebracht hat. Er deckt  auf, wie der Lobbyismus einzelner Länder oder Wirtschaftszweige wuchert und wie hilflos ihm die politischen Vertreter ausgeliefert sind.

Was Enzensberger als Entwicklung in der EU schildert, trifft in Tat und Wahrheit alle Länder, inner- oder außerhalb der Union. Die Kritik lässt sich Seite für Seite und eins zu eins auf die Schweiz übertragen. Seit Jahrzehnten werden hier Wahlkämpfe mit Slogans gegen die Gesetzesflut, gegen behördliche Regelungswut gefochten. Auch im Wahljahr 2011 wird der Ohrwurm wieder gesungen.   Man müsste angesichts der Mehrheitsbehältnisse in Parlamenten und Regierungen doch meinen, es müsste längst gelungen sein, den Staat in ein schlankes, zahnloses Papiertigerchen verwandelt zu haben. Wieso dem eben nicht so ist, zeigt Enzensberger am Beispiel EU in lesenswerter Klarheit und in für alle demokratischen Staaten gültiger Weise auf: Es sind eben gerade nicht regulierungswütige  Beamte oder etatistische Politiker, sondern es sind wirtschaftliche Interessen, die sich den direkten Zugang zu den Entscheidträgern verschaffen können und so Überreglementierungen bewirken.

Anders ist das bei der Demokratiekritik, dem »postdemokratischen Zeitalter«, wie Enzensberger den zweiten Teil seiner Analyse betitelt. Es ist zunächst aufschlussreich, dass er hier in erster Linie gar nicht die mangelnde Mitsprache der Bürger in institutioneller Hinsicht reklamiert, sondern vom Resultat der Gesetze her argumentiert, also die Bevormundung des Bürgers durch die Verwaltung  kritisiert. Diese schreibe vor, wo geraucht werden dürfe, was verspeist werden dürfe und was nicht. »Die Europäische Union weiß alles besser als wir.«  Aber auch in einer direkten Demokratie erlässt die Mehrheit der Bürger Rauchverbote gegenüber einer Minderheit und zeigt so, dass es nicht um institutionelle, sondern um inhaltliche Fragen wie Gesundheit, Toleranz oder Eigenverantwortung geht. Entscheidend ist dabei, wie die Anliegen der Minderheit aufgenommen werden, so dass sich die Minderheit mit dem Entscheid abfinden kann. In diesem Vorgehen liegt der Unterschied zwischen unserer Konsensdemokratie und den Mehrheits- und Minderheitssystemen unserer Nachbarn.

Die von Enzensberger geschilderte Furcht der EU vor Referenden oder gar vor Volksbegehren ist für uns Schweizer unverständlich. Diese Grunddifferenz um das demokratische Selbstverständnis erlebe ich seit geraumer Zeit in zahlreichen Diskussionen vor allem in Deutschland und Österreich. Ein Referendum wird in unseren Nachbarländern gewissermaßen als ein Wutventil angesehen. Bei uns hingegen will direkte Demokratie die Tugend sein, den Staat zu gestalten. Ein Referendum ist stets in die Gesetzgebungsarbeit integriert. Sie richtet sich mit Vernehmlassungsverfahren danach, ein Gesetz »referendumstauglich« auszugestalten. Das entbindet von der »Angst« vor dem Volksentscheid. Die Kritik Enzensbergers an mangelnder Demokratie in der EU ist für uns nachvollziehbar. Doch wir sehen, dass es nicht die EU ist, es sind alle unsere Nachbarn, die dieses andere Verständnis haben. In ihrer Union potenziert sich diese Frage notwendigerweise und die EU wird zum Sündenbock.

Enzensberger prangert an, wie einzelne Wortführer der EU ihre Projekte verteidigen: Die Kritiker werden als »uneuropäisch« abgestraft. Eine simple und perfide Methode, Kritiker zu diskriminieren, doch eine weit verbreitete. Wir kennen sie in der Schweiz: »Moskau einfach!«, »Landesverräter!«, »unschweizerisch!«, so tönte es, als Max Frisch, Adolf Muschg oder andere Kritiker der offiziellen Schweizer Politik einen dritten Weg zwischen den Fronten von links und rechts suchten. Dass sie sich eben nicht abmeldeten, sondern einmischten, war letztlich der Beweis für ihre Liebe zur Schweiz.

Das ist bei Enzensberger nicht anders. Nie postuliert er die Auflösung der EU. Niemand tut das. Sogar Vaclav Klaus, ein populistischer Zyniker, wagt nicht, den Austritt seines Landes zu fordern. Der Autor räumt auch ein, dass es in der EU sehr wohl einen aufgeklärten Diskurs über den Stand der Dinge gibt: Zum Schluss tauschen sich in einem fiktiven Dialog ein EU-Diplomat und ein intellektueller Kritiker aus. Heftig streiten sich die beiden in einem Brüsseler Restaurant über die Chimäre EU, über deren Vergangenheit und Zukunft, Hanna Ahrendt, Jean Monnet, Karl Valentin zitierend, je von Gesinnungs- und Verantwortungsethik ausgehend, dass es eine Lust ist zuzuhören und man sich am liebsten einmischen möchte. Solche sehr kritischen Dialoge über die EU finden in Brüssel tatsächlich häufig statt, ich habe das selbst erlebt. Es ist diese Selbstkritik, welche die Hoffnung für die Zukunft der EU nährt. Wer die EU lieb hat, der kritisiert sie – so wie Hans Magnus Enzensberger.

Die EU ist geschaffen. Sie hat vieles erreicht, sie hat auch Defizite. Und sie geht damit um, sie packt Reformen an. Wer die EU lieb hat, der kritisiert sie – so wie Hans Magnus Enzensberger. Schade nur, dass sich die Schweiz nicht daran beteiligen will.

Hans Magnus Enzensberger, Sanftes Monster Brüssel, Suhrkamp