Navigation ausblenden

9/11: "Es war ein Angriff auf unsere liberalen Werte"


Interview mit Ralf Kaminski und Sabine Lüthi, Migros Magazin, 29. August 2011

Migros Magazin: Moritz Leuenberger, was haben Sie gerade gemacht, als Sie von den Anschlägen in New York hörten?

Moritz Leuenberger: Ich war in einer ganz normalen Sitzung, und niemand hat mich – den Bundespräsidenten – informiert. Nach der Sitzung habe ich es von einem Mitarbeiter gehört, der es von seiner Freundin erfahren hatte, und setzte mich natürlich gleich vor den Fernseher.

Da standen die Türme schon nicht mehr?

Nein, das war erst etwa drei Stunden später. Dass ich nicht umgehend informiert wurde, kam natürlich zur Sprache, mit einiger Vehemenz. Es hat auch gewirkt: Bei den anderen Katastrophen jenes Herbsts bin ich dann immer sofort informiert worden.

Erinnern Sie sich noch an Ihre Gefühle von damals?

 

Ich weiss noch, wie ich dachte: Solche Bilder kenne ich aus Science-Fiction-Filmen, kann das wirklich Realität sein, was ich da sehe? Mir war aber auch sofort klar, dass das ein historisches Ereignis ist, zu welchem ich mich als Bundespräsident öffentlich äussern musste. Ich organisierte dazu sehr rasch eine Medienkonferenz.

Wissen Sie noch, was Sie damals dem Volk sagten?

Die politisch wichtigste Botschaft war, dass der Angriff auf das World Trade Center ein Angriff auf unsere liberale Gesellschaftsordnung sei, auf unsere Werte von Toleranz und Offenheit. Dass diese Werte als Reaktion auf die Anschläge auch in Frage gestellt werden könnten. Aber dass wir sie nun erst recht hochhalten müssten. Ausserdem: Blosse Rache fördere die Spirale von Hass und Gewalt, und das könne nicht die Antwort sein. Das habe ich sinngemäss – neben unserer Solidarität – auch US-Präsident Bush in einem Telegramm mitgeteilt.  

Einen direkten telefonischen  Kontakt mit Bush gab es nicht?

Nein, da haben so viele telefoniert, das habe ich gar nicht erst versucht. Aber dass man einem anderen Volk via seinem Präsidenten  die Anteilnahme ausdrückt, ist eine wichtige und schöne Tradition. Unmittelbar nach dem Attentat im Zuger Parlament im gleichen Herbst hat der tschechische Präsident Vaclav Havel mir seine Solidarität zukommen lassen, weil er das sofort als Angriff auf die Demokratie verstanden hat.

Gab es direkt nach den Anschlägen Ängste, dass jetzt auch die Schweiz unmittelbar bedroht sein könnte?

Oh ja. Die Ängste waren massiv. Wenn ein Attentat in New York möglich war, dann doch im ganzen Westen, auch bei uns. Die Angst vor terroristischen Aktivitäten war schon vorher latent da, ist aber nachher war sie akut. Es gab auch konkrete Folgen: die weltweiten Sicherheitsvorkehrungen im Flugverkehr wurden auch in der Schweiz eingeführt. Wir mussten massiv aufrüsten. Dazu kam die Auseinandersetzung über die tieferen Ursachen von Terrorismus: die ökonomischen Ungleichheiten, die Facetten des Islams, das Verhältnis zwischen den Kulturen. Daraus ergab sich eine grosse Diskussion. Dass die Minarett-Initiative lanciert und angenommen wurde, ist indirekt und teilweise auch auf 9/11 zurückzuführen.

Sie waren im Herbst 2001 gefordert. Erst 9/11, dann das Attentat in Zug, das Swissair-Grounding, der Lastwagenunfall im Gotthardtunnel, der Crossair-Absturz bei Bassersdorf, alles innert drei Monaten. Was ging in Ihnen vor?

Es war eine harte Zeit. Für uns alle. Nach dem Crossair-Absturz liess ich mich dazu hinreissen zu sagen: „Hört denn das nie auf?“ Das wurde mir teilweise als zu emotional angekreidet, aber viele sagten mir auch, dass ich genau das gesagt habe, was sie gedacht hätten. Gefühle darf auch ein Bundespräsident zeigen, finde ich.

Fühlten Sie sich angesichts der Unglücks-Serie auch mal überfordert?

Nie. Man hat mir ja in den 15 Jahren im Bundesrat immer wieder vorgeworfen, ich nehme mein Amt nicht so ernst – und tatsächlich habe ich meine Rolle gelegentlich mit gewisser Distanz gesehen. Aber nie in diesen Momenten, da habe ich mich zu 100 Prozent mit meiner Aufgabe identifiziert.

Haben Sie Ihre Reden jeweils selbst verfasst?

Ja, aber in Absprache und Diskussionen mit anderen. Einerseits war da mein Stab, andererseits habe ich auch mit Freunden geredet. Beim Attentat von Zug zum Beispiel war ich gerade mit dem senegalesischen Präsidenten unterwegs, der auf Staatsbesuch war. Ich musste ihn stehen lassen und machte mich sofort auf den Weg nach Zug. Während der Fahrt habe ich mit Freunden telefoniert, einer davon ein Psychiater – von ihnen flossen Aussagen in meine Erklärung ein.

Die Verunsicherung war gross im Land nach 9/11, und spätestens mit dem Grounding hatten viele das Gefühl, jetzt gehe dann mit der Swissair auch gleich die Schweiz unter...

Die fünf Katastrophen haben für mich nicht die gleiche Bedeutung. 9/11 und Zug sind die ganz grossen, ergreifenden Ereignisse. Zug ging mir besonders nahe. Ich war dort, der Boden war noch blutdurchtränkt, die Särge mit den Leichen gleich daneben, darunter auch Leute, die ich persönlich gekannt habe. Die weltpolitische Bedeutung von 9/11 ist natürlich grösser, klar, aber Zug war persönlicher, rein durch die Nähe. Ich glaube auch, dass 9/11 nicht ohne Einfluss auf das Verhalten des Zug-Attentäters war. Der Massenmord in New York könnte seine Hemmschwelle gesenkt haben.

Und das Grounding?

Das war etwas ganz anderes, der wirtschaftliche Zusammenbruch eines Unternehmens. Da habe ich auch anders reagiert, habe sogar Sprüche gemacht. Zum Beispiel (denkt kurz nach): Die Flugzeuge bleiben am Boden, der Bundesrat geht (vor Wut) in die Luft, irgendwie so. Es war eine ganz andere Kategorie, es gab klare Ursachen, die zu vermeiden gewesen wären, etwa die «Hunter»-Strategie der Swissair-Spitze. Auch die Folgen waren nicht zu vergleichen mit den anderen beiden Ereignissen. Der Unfall im Gotthard und der Crossair-Absturz waren dann klassische Grossunfälle, die wir in unser Risikodenken einkalkulieren. Das sind Risiken der Gesellschaft, in der wir leben. So brutal es klingt, aber wir rechnen mit solchen Unfällen und üben Rettungspläne. Natürlich ändert das nichts am Schock und an der Trauer, wenn das Risiko Gestalt annimmt.

Oft hat man bei Politikern den Eindruck, da werde ein Betroffenheits-Ritual abgespuhlt.

Ich hoffe, den Eindruck hatte man bei mir nie. Und es war auch nicht so. Es hat mich jedes Mal innerlich wahnsinnig mitgenommen. Aber dabei darf ich es als Bundespräsident nicht bewenden lassen, ich muss auch politisch reagieren und die Zukunft ansprechen. Oft wird da ja nur die harte Bestrafung der Täter gefordert, aber das ist mir zu simpel.

9/11 war von den Terroristen sehr medienwirksam inszeniert, die Bilder hängen bis heute in unseren Köpfen. Hat dieser Anschlag den Umgang mit der Macht der Bilder verändert?

Sicher ist die Macht der Bilder enorm. Ein paar Monate nach dem schwarzen Herbst habe ich einen weiteren Katastrophenort besucht, an den sich heute kein Mensch erinnert, weil keine einzige Kamera dabei war. Es hatte im Emmental eine schwere Überschwemmung gegeben, mit Toten. Aber Katastrophen finden auch dort statt, wo es keine Kameras gibt. In der Dritten Welt sterben Hunderttausende von Menschen. Das ist trotzdem eine Katastrophe, auch wenn es keine Bilder gibt. Und bei 9/11 haben die Bilder die symbolhafte Bedeutung des Anschlags als Angriff auf die freie Gesellschaft verstärkt.

Sieht man sich die aktuelle Lage der westlichen Welt an, mit der scheinbar endlosen Wirtschaftskrise, der politischen Polarisierung und Ratlosigkeit, scheinen die Terroristen von damals auf gutem Weg, ihr Ziel zu erreichen: Seit 2001 geht es abwärts. Haben die Anschläge dazu beigetragen oder haben wir das ganz alleine geschafft?

Ich glaube nicht, dass das mit 9/11 zu tun hat. Höchstens indirekt. Dass die USA in Afghanistan einmarschierten und im Irak einen Krieg begonnen haben, waren Folgen der Anschläge, und vor allem der Irakkrieg hat zu jener Verschuldung beigetragen, die ein Teil der aktuellen Krise ist. Das Ausmass der Verschuldungen ist aber hausgemacht und hätte sich vermeiden lassen, zum Beispiel mit einer Schuldenbremse, wie wir sie in der Schweiz kennen. Zudem leben wir in jeder Beziehung über unsere Verhältnisse– in den USA durch einen Verzicht auf den völkerrechtswidrigen Irak-Krieg. Darin liegt das Hauptproblem, und das hat mit 9/11 nichts zu tun.

Aber man hat sich im Westen auf das neue Böse eingeschossen: die Muslime.

Es gibt Leute, welche diese Verkürzung machen und versuchen, daraus Kapital zu schlagen. Aber es gab nach den Anschlägen auch eine bewusstere Auseinandersetzung mit dem Islam, und zwar ganz seriös. Es wurden viele Bücher publiziert und auch gekauft. Natürlich gab es dann auch akzentuierte Konflikte zwischen den Religionen, etwa in Holland oder Dänemark, wobei das immer nur indirekt mit 9/11 zu tun hatte. Aber es gab genauso den Dialog. Und wir haben ja auch immer betont, dass es letztlich keinen anderen Weg gibt als den Dialog. Ansonsten würden wir unsere Grundlagen einer liberalen Gesellschaft aufgeben.

Bis heute gibt es Verschwörungstheoretiker, die glauben, die USA hätten bei den Anschlägen ihre Finger selbst im Spiel gehabt – hätten sie zugelassen oder stünden gar dahinter. Was halten Sie von diesen Ideen?

Das ist Unsinn. Es gibt historische Ereignisse, die man nicht leugnen darf, das wäre verantwortungslos.

Wie war das für Sie, als Osama bin Laden erschossen wurde?

Das war ein Akt von grosser Symbolkraft. Ich hätte es noch schöner gefunden, wenn man ihn vor Gericht gestellt hätte. Und doch hat es weltweit Erleichterung ausgelöst, auch bei mir. Eine Bedrohung ist eliminiert worden. Aber es ist wie bei der Hydra: Man weiss nicht, wieviele Köpfe wo nachwachsen. Ich glaube, es wäre falsch, sich da zu viele Hoffnungen zu machen. Aber wenn wir von 9/11 reden, müssen wir auch von Zug reden und von Norwegen. Der Anschlag in Oslo hat viele Parallelen mit Zug. Dunkle Seiten in menschlichen Seelen gibt es auch in unserer Kultur.

Es scheint, die Demokratien der Welt sind angesichts der Bedrohung bereit, weniger Freiheit für mehr Sicherheit in Kauf zu nehmen. Wann ist eine Grenze erreicht?

Es ist ein stetes Abwägen zwischen Risiko und Freiheit. Insgesamt neigen wir dazu, das Risiko zu verdrängen zugunsten der Freiheit – ich laufe auch lieber ohne Bodyguards rum. Unmittelbar nach Attentaten oder Unfällen wollen immer alle Massnahmen für mehr Sicherheit, aber das schwächt sich meist rasch ab. Zwei Jahre nach Zug waren die Sicherheitsschranken im Bundeshaus schon wieder umstritten. Nach dem Lastwagenunfall im Gotthard zum Beispiel war sogar das Transportgewerbe mit einem Kreuzungsverbot einverstanden. Drei Monate später wurde dann schon wieder von Schikanen geredet. Ich habe aber Verständnis dafür, denn eine gewisse Verdrängung von allen möglichen Schreckensszenarien ist menschlich und gehört zur Lebensfreude, die wir doch eigentlich möchten.