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Interview in der Rhein-Neckar Zeitung


"Putin hatte im Bundestag doch Respekt eingefordert"

Der Schweizer Sozialdemokrat Moritz Leuenberger über die Mängel der
EU-Diplomatie in der Ukraine-Krise

24.11.2014, 06:00

Von Klaus Welzel

Heidelberg. Der ehemalige Schweizer Bundespräsident Moritz Leuenberger war am
Freitagabend Gast beim RNZ-Forum im Heidelberger DAI. Erneut ging es um die künftige
Ausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik sowie den Ruf von Bundespräsident
Joachim Gauck nach mehr internationaler Einmischung.


Herr Leuenberger, am vergangenen Wochenende machte eine Meldung die Runde,
wonach die Schweiz erst jetzt, 25 Jahre nach Ende des Kalten Krieges,
Sprengfallenvorrichtungen an den Grenzbrücken nach Deutschland entfernte. Wieso
denn so spät?
Da bin ich komplett überfragt. Ich wusste gar nicht, dass es noch Sprengfallen gibt.
Wir waren auch ganz überrascht.
Obwohl ich 15 Jahre in der Regierung war, hatten wir uns nie über die Sprengfallen
unterhalten.
Für mich klang das ein bisschen nach Kaltem Krieg: Ist das Kapitel für die Schweiz erst
jetzt beendet?
Nein, das schätze ich anders ein. Das waren sicher Kostengründe. Aber nochmals: Da waren
höchstens einige Militärspezialisten auf dem Laufenden. Ich war Infrastrukturminister und
wusste von nichts, obwohl ich ja für alle Brücken, Straßen und Tunnel zuständig war.
Es hätte halt zu schön zum derzeitigen Ton zwischen West und Ost im Ukraine-Konflikt
gepasst. Dennoch: Macht die EU aus Sicht der Schweiz alles richtig im Umgang mit dem
schwierigen Ukraine-Konflikt?
Wir diskutieren vor allem über den Umgang mit Putin. Ob es reicht, sich selbst als eine
Friedensorganisation zu sehen? Das ist zwar sicher der Fall. Aber Russland sieht das nicht so.
Dort herrscht Territorialdenken und dieses fortgesetzte Ausweiten der EU-Grenzen wird als
eine machtpolitische Drohung empfunden. Die Bedenken gehen bei uns dahin, dass die EU
damit vielleicht etwas sorgsamer hätte umgehen müssen.
Hat die EU Putin zu wenig Respekt gezollt? Es geht dabei ja wohl auch um eine
Kränkung.
Ich habe per Zufall auf Youtube die Rede Putins im Deutschen Bundestag gesehen, wo er
ausdrücklich darauf hinweist, auf diese Empfindlichkeit. Da habe ich mich etwas gewundert,
dass sie nicht aufgenommen wurde. Allein die Aufnahme Bulgariens und Rumäniens in die EU
hat kein einseitiger Akt sein dürfen und hätte das ausdrückliche Einverständnis von Russland
benötigt; das hätte besiegelt werden müssen. Ob gegenüber der Ukraine die Fühler
überhaupt hätten ausgestreckt werden sollen? Wenn schon, dann mit behutsamer Rücksicht
auf Russland.
Der deutsche Außenminister Steinmeier und sein französischer Kollege Fabius sind
letzten Winter nach Kiew gereist und habe sich dort aktiv in die ukrainische Innenpolitik
eingemischt.
In aller Demut kann ich das nur mit Reserve kritisieren. Ob ich an der selben Stelle nicht
genauso gehandelt hätte, muss ich offen lassen. Auch weiß ich ja nicht, was wirklich alles
gelaufen ist. Aber es entstand schon der Eindruck von einer etwas gar intensiven
Einmischung.
Der deutsche Bundespräsident Gauck forderte, Deutschland solle sich international mehr
einmischen. Wie bewerten Sie den Vorstoß als Schweizer?
Ich empfinde ihn deshalb als richtig, weil von Deutschland diese Rolle auch erwartet wird
und also die Verantwortung besteht. Es geht nicht nur um die wirtschaftliche Kraft, sondern
auch darum, dass es - anders als Österreich, Frankreich und vor allem Russland - die eigene
Vergangenheit auch aufgearbeitet hat. Deshalb finde ich die Aktivität auch moralisch
legitim. Der Aufruf von Gauck ist ja von Merkel und Steinmeier in einer sehr
verantwortungsvollen Weise umgesetzt worden. Es könnte dann aber kippen, wenn es zur
Hegemonie ohne Beteiligung und Einbezug der ganzen EU würde. Das verbietet sich.
Wobei die deutsche Außenpolitik als solche kaum existiert, sondern immer innerhalb der
EU. Das war ja auch der Preis für die Deutsche Einheit.
Dieses konsensuale Denken ist in der Schweiz natürlich sehr viel mehr verwurzelt. Unser
ganzes Denken, unser gesamtes Handeln, auch das außenpolitische, beruht immer auf dem

heidelberg interview

Foto: Rothe


Einbeziehen aller irgendwie Betroffenen, also auch aller Minderheiten. Das ist für uns ein
ganz wichtiges Element. Deswegen würden wir den Ausdruck, das sei der Preis für die
Einheit gewesen, nicht verwenden. Das ist kein Preis, sondern ein Segen. Da muss auf nichts
verzichtet werden, ganz im Gegenteil, so wurde die Macht gestärkt.
Mit hauchdünner Mehrheit haben die Schweizer im Rahmen einer Volksabstimmung die
Freizügigkeit gekippt. Wie geht das Land mit dem Ergebnis um?
Die jetzige Regierung sucht gemeinsam mit der EU eine EU-kompatible Lösung. Da gibt es
zahlreiche Gespräche, die von der Öffentlichkeit so nicht wahrgenommen werden. Eine
Lösung ohne Personenfreizügigkeit ist aber völlig undenkbar. Wenn keine Lösung gefunden
wird, wird die Schweiz auf die Abstimmung zurückkommen müssen. Die bilateralen Verträge
mit der EU sind ein wichtiges Rückgrat der Schweiz, darauf können wir gar nicht verzichten.
Die Initiative hieß "gegen Masseneinwanderung" - wer war damit gemeint?
Das ist ein polemischer Ausdruck. Es gibt ja keine Massen, die einwandern. Was mir größte
Sorge bereitet: Unsere Volksinitiativen waren viele Jahrzehnte geprägt davon, dass sie ganz
konkrete Vorstöße zum Inhalt hatten; zum Beispiel die Höhe der Mehrwertsteuer. Seit
geraumer Zeit werden diffuse Glaubensbekenntnisse zu Initiativen formuliert. Zum Beispiel
die Minarett-Initiative. Bei uns gibt es Minarette und wir haben keinerlei Schwierigkeiten mit
ihnen. Aber da ging es um Stimmungsmache gegen den Islam - mit dem Ergebnis, dass auch
linke Frauen für die Minarett-Initiative stimmten, weil Frauen im Islam benachteiligt
werden.
In Deutschland wurde die Initiative gegen Masseneinwanderung natürlich auch als Affront
gegen Deutsche empfunden.
Unter diesem Aspekt wurde sie aber bei uns nicht diskutiert.
Viele Deutsche arbeiten in der Schweiz.
Schon, aber das größte Problem sind die Pendler aus Italien. Sie bewirken ein großes
Lohndumping. Das ist wegen der Deutschen in der Schweiz nicht der Fall. Im Visier vieler
Stimmbürger waren auch Roma oder Flüchtlinge aus Afrika, gar nicht nur Menschen aus der
EU. Konflikte mit Deutschen in unserem Land gibt es. Ich erlebe sie eher als liebevolle
Neckerei. Aber ich weiß, dass es manchmal auch Bösartigkeiten gibt. Ich kann das nicht
schönreden.