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Digitalisierung, Dummheit und Demokratie (1)


"Der Mensch ist ein analoges Wesen" – Moritz Leuenberger
über Digitalisierung, Dummheit und Demokratie (1)

Von Reinhard Riedl

Altbundesrat Moritz Leuenberger spricht über die Chancen von digitaler Transparenz, die
Stärken langsamer Gesetzgebung, den Vorteil von natürlicher Dummheit, die
Notwendigkeit der Regulierung von Infrastruktur und die "Verwesentlichung" von
Demokratie dank digitaler Instrumente. In diesem ersten Teil geht es um Konsens,
Transparenz und direkte Demokratie.

digitalisierung

 

Steigen wir mit einer Kernfrage ein: Erschwert die binäre Logik der Digitalisierung die Konsensfindung im sozialen und politischen Miteinander?

Moritz Leuenberger: Für mich wirkt die Digitalisierung sich oft so aus, dass ich statt mit Menschen mit Maschinen kommuniziere. Bei Menschen könnte ich nachfragen, Maschinen dagegen verstehen die Differenzierungen gar nicht. Das konditioniert mich zu einem binären Verhalten, auf das ich vorher in der analogen, zwischenmenschlichen Beziehung nicht reduzieren musste. Diese Entwicklung macht mir Sorgen. Werden wir zu binären Wesen mutieren, die nur noch A oder B sagen?

Solche binären Tendenzen sehe ich auch in der Demokratie. Diese wird oft auf die Abstimmung zwischen Mehrheit und Minderheit reduziert. Demokratie ist aber mehr. Abstimmungen sind ein Teil der Demokratie, aber nicht einmal der wichtigste Teil. Ebenso wichtig ist, dass Minderheiten auch berücksichtigt werden, dass Zwischenlösungen gefunden werden. Alle sollen sich in einem Entscheid finden können, auch Minderheiten.

Sehen Sie Möglichkeiten, wie man zu einer multi-perspektivischen Betrachtungsweise kommen kann, obwohl wir mehr und mehr von einer Technologie geleitet werden, die nur Nullen und Einsen kennt?

Schwierig. Es wäre ein Plädoyer für analoges Denken. Und analoges Denken heisst, die Kraft zur Fantasie und zur Assoziation zu haben. Bei einer digitalen Uhr springt der Zeiger von eins auf zwei. Es ist also entweder eins oder es ist zwei. Bei der analogen Uhr wandert der Zeiger von einer Ziffer zur anderen. Das lässt ein assoziatives Denken zu, zum Beispiel: «Bald ist es zwei.» Das entspricht auch dem Unterschied zwischen Kunst und digitalem Denken. Der Mensch ist ein analoges Wesen.

Digitalisierung macht vieles transparenter und berechenbarer, insbesondere auch wer bei politischen Vereinbarungen wie viel gewinnt oder verliert. Was bedeutet es für die Konsensbildung in der Politik?

Es erleichtert eigentlich die politische Arbeit. Wenn ich von meinem klassischen Ideal der rationalen Auseinandersetzung ausgehe, welche Kompromisse anstrebt, wenn die Interessenskonflikte klar auf dem Tisch liegen, dann unterstützt mich die Digitalisierung in der politischen Arbeit. Denn der Konsens oder der Kompromiss ergibt sich ja nicht aus der Ungewissheit. Im Gegenteil, wenn Unklarheit vorherrscht, konzentriert man sich auf die eigenen Meinungen und geht sich gegenseitig an, ohne zu einem gemeinsamen Resultat zu kommen. Von daher sehe ich das Herausschälen von Vor- und Nachteilen als einen Gewinn für den politischen Prozess.

Trotzdem fordert die wachsende Transparenz die gesellschaftliche Solidarität heraus, beispielsweise wenn im Versicherungswesen die unterschiedlichen Risiken der Einzelnen sichtbar werden.

Ja, aber wir müssen diese herausgeforderte Solidarität annehmen. Im Wesen der Versicherungen steckt immer Solidarität. Sie ermöglicht die Sicherheit. Versicherungen bedeuten, dass auch wenn du sie gar nicht beanspruchst, du trotzdem sicher bist: sicher, dass ein Schaden, wenn er einträte, entgolten wird. Diese Sicherheit ist eine Leistung. Erbracht werden kann sie dank der solidarischen Aufteilung des Risikos. Beispielsweise bei den Krankenkassen. Dort gibt es eine Quersubventionierung von den Jungen zu den Alten. Das Prinzip kennen wir auch ohne Digitalisierung. Die Interessengegensätze sind jedem versicherten Menschen klar zugänglich. Es geht nur darum, ob wir dies auch wissen wollen.

Auch wenn das Ausmass der Querfinanzierung dank Digitalisierung leichter errechnet werden kann, muss der Solidaritätsgedanke auch in Zukunft die Grundlage einer Versicherung bleiben. Es geht dann um die politische Diskussion über Solidarität und Egoismus. Dabei wäre es falsch, die Unwissenheit über die Querfinanzierungen zu begrüssen, weil so die Solidarität vermeintlich leichter zum Tragen kommt. Viel emanzipierter ist es, wenn alle diese Querfinanzierung kennen und dazu stehen, weil sie in einer solidarischen Gesellschaft beteiligt sein wollen. Wenn der Solidaritätsgedanke in Gefahr ist, ist das nicht aufgrund der Digitalisierung so, sondern aufgrund des egoistischen Denkens.

Mit anderen Worten: eine bewusste Solidarität ist zuverlässiger als eine unbewusste.

Richtig. Das ist eine inhaltlich gefestigte Solidarität, also auch eine nachhaltige. Fusst sie auf Unwissenheit ist sie brüchig. Die inhaltlich gefestigte Solidarität durchdringt unsere ganze Demokratie, vom Wahl- und Steuerproporz über den Finanzausgleich zwischen Kantonen und Gemeinden bis zu den Subventionen.

Solidarität ist ohne eine geteilte Sicht auf die Welt schwierig. Die digitale Personalisierung von Dienstleistungen führt dazu, dass wir alle die Welt unterschiedlich erleben.

Ja. Aber wenn ich logisch denke, kann ich es kaum auf die Digitalisierung zurückführen, sondern auf einen egozentrischen Individualismus, der mich natürlich unglaublich stört. Ich habe Mühe, das auf die Technologie zurückzuführen, denn die Technologie kann auch altruistisch genutzt werden. Dennoch möchte ich die Gefahr nicht herunterspielen. Wir haben aber ein politisches und kein technologisches Problem.

Die digitale Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft vollzieht sich sehr schnell. Ist das politische System fähig, damit Schritt zu halten?

Hier muss ich etwas ausholen. Ich empfinde die Geschwindigkeit eines Veränderungsprozesses als einen Bestandteil des Anliegens selbst. Das Tempo einer Veränderung ist ein zentrales inhaltliches Element jeder Politik. Deswegen bin ich der Meinung, die Geschwindigkeit der politischen Abläufe müsse sich in keiner Weise der Geschwindigkeit der Digitalisierung angleichen. Da muss die Politik ihr eigenes Tempo anschlagen. Sprechen wir über das Beispiel Liberalisierung: Ich selber war immer Anhänger der Idee, dass die Bundesbetriebe auch liberalisiert werden sollen. Nun besteht ein Unterschied, ob man das auf einen Schlag macht und alles Bestehende plötzlich zerschlägt oder sich schrittweise auf den Weg macht, den die Leute langsam mitgehen können. Wenn ihr politisches Bewusstsein sich allmählich ändert und sie nicht überfahren werden, dann können sie zu einem nachhaltigen Umdenken finden. Die plötzliche Variante – die Variante subito – verunmöglicht diesen Prozess.

Ist die halbdirekte Demokratie der Schweiz gut geeignet für das Bewältigen des digitalen Wandels?

Ich bin in dieses System der direkten Demokratie hineingeboren. Würde ich vom Mars kommen, und müsste ein politisches System erfinden, wäre es vermutlich ein anderes. Aber hier in der Schweiz geboren und aufgewachsen habe ich verinnerlicht: Jedes Gesetz muss schlussendlich eine Volksabstimmung überstehen können. So denke und so fühle ich. Von daher schaue ich den Veränderungsprozess durch die langsamen Mühlen als eine gegebene Notwendigkeit an. Dennoch beschäftigt mich der Einfluss der Digitalisierung auf unsere Demokratie. Das ist der Grund, dass TA-Swiss drei Studien zum Themenkomplex in Auftrag gegeben hat. Sie werden im Sommer dieses Jahres veröffentlicht.