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Parasitäre Rentner und Eliteschulen


«Die Jugendarbeitslosigkeit ist ein politischer Skandal»

Moritz Leuenberger eröffnete an der Hochschule Luzern das Studienjahr. Gelegenheit, mit dem ehemaligen Bundesrat über seine eigene Studienzeit zu sprechen, über eine «Moral des Wettbewerbs» und eine ältere Generation, die er manchmal als «fast parasitär» empfindet.

Sie haben damals Jura studiert. Würden Sie sich heute für das gleiche Fach entscheiden?

Als ich das Studium wählte, wusste ich noch nicht, welchen Beruf ich einmal ausüben möchte. Als Mediziner schienen mir die nächsten 30 Jahre praktisch vorgezeichnet. Ich wollte mir möglichst lange viele Türen offen halten. Ein Rechtsstudium bot viele Möglichkeiten: Verwaltung, Wirtschaft, Gericht, Selbständigkeit. Auch heute wäre mir eine möglichst offene Lebensgestaltung wichtig. Deswegen würde ich mich wohl wieder für Jura entscheiden.

«Mich nervt, wenn
rüstige Menschen nur
noch konsumieren.»

Moritz Leuenberger

Worum beneiden Sie die heutigen Studierenden?

Dank des Bologna-Modells ist ein Auslandsemester einfacher. Damals war das zwar nicht ausgeschlossen, aber mit hohem Aufwand verbunden. Dass ich diese Möglichkeit nicht ergriffen habe und nicht einmal nach Genf gegangen bin, bereue ich heute.

Waren Sie zu sehr an die Familie gebunden?

Im Gegenteil. Ich wollte möglichst schnell auf eigenen Füssen stehen und habe mein Studium im Eiltempo durchgezogen. Das würde ich heute anders machen.

Die Arbeitslosigkeit der Unter-25- Jährigen ist in vielen europäischen Ländern dramatisch hoch. Warum ist es noch nicht zu einem «Aufstand» der jungen Leute gekommen? Sind sie so viel unpolitischer als Ihre Generation? Die Arbeitslosigkeit, vor allem der Jugend, ist der grösste gegenwärtige politische Skandal. Die Betroffenen sehen und fühlen das sehr wohl. Die Grundstimmung unterscheidet sich aber stark von jener der 60er-Jahre. Damals herrschte die Überzeugung, alle gesellschaftlichen, ja alle zwischenmenschlichen Probleme seien politischer Natur und müssten auch politisch angegangen werden. Heute suchen junge Leute die Lösung eher im individuellen Verhalten: den noch besseren Abschluss zu erstreben, sich mit allen Mitteln um einen Job zu kümmern, besser zu sein als der Mitbewerber. Es herrscht eher eine Moral des Wettbewerbs, als dass politische Forderungen erhoben würden.

Moritz Leuenberger

Damit wird Erfolglosigkeit beim Berufseinstieg als persönliches Versagen wahrgenommen und nicht als Resultat einer gescheiterten Politik …

Das ist so. Und ich sehe es nicht gerne, wie sich der Wettbewerbsgedanke auch hier breitmacht. Letztlich bedeutet dies, dass ökonomisch stärkere Schichten die Ausbildung zu ihrem Vorteil nutzen können. Ihre Kinder besuchen private Schulen, in denen schon den Jüngsten Wirtschaft, Frühchinesisch und Business- Englisch eingetrichtert werden ...

Wie ist es in der Schweiz um die Chancengleichheit bestellt? Ist sie heute nicht eher gewährleistet als vor 20 Jahren?

Als ich studierte, lautete der Vorwurf, der Zugang zur Matur sei zu sehr von der sprachlichen Herkunft geprägt. Wer aus einem Elternhaus kam, in dem die deutsche Sprache und die Ausdrucksfähigkeit gepflegt wurden, der bekam den Zugang praktisch geschenkt, während die mathematisch Begabten und Kinder aus Einwandererehen benachteiligt wurden, weil sie unsere Sprache nicht so gut beherrschten, obwohl sie ja deswegen nicht minder intelligent waren. Was das anbelangt, wurden Fortschritte gemacht, vor allem mit der Einführung der Berufsmatur. Was mir eher Sorge bereitet, sind die zunehmenden privaten Eliteschulen.

Der Schweiz wird ein etwas verkrampfter Umgang mit «Eliten» vorgeworfen; das angelsächsische Modell, das frühzeitig nach besonderen Talenten, sei es im Sport oder in Mathematik, Ausschau hält, gilt als Vorbild. Wie sehen Sie das?


Diese Förderung von angeblich Superbegabten, die dann schon als Kleinkinder separiert werden, damit ihr Wahnsinnspotenzial an Intelligenz noch vervielfacht wird, führt zu einem Eliteverständnis, das der Allgemeinheit schadet – und ihnen selber übrigens auch. Es ist ein menschlicher Wert, wenn in einer Schule der Besserbegabte dem Minderbegabten helfen kann; er hilft damit nicht zuletzt auch sich selbst. Wenn Kinder aus begüterten Verhältnissen auf Eliteschulen gehen, empfinde ich das als Entsolidarisierung der Gesellschaft. Das Obligatorium der Volksschule war eine grosse Errungenschaft. Es war ein doppeltes Obligatorium: Man musste in die Schule gehen, und man ging gleichzeitig in die beste Schule, nämlich die staatliche. Wird diese nur noch eine Variante unter vielen, geht ihre soziale Bedeutung allmählich verloren.

Ein kontroverses Thema im Bildungsbereich sind auch die Studiengebühren. ETH-Rektor Lino Guzzella strebt eine Verdopplung an. Was ist Ihre Meinung dazu?

Wichtig ist für mich, dass jeder die Möglichkeit hat, unabhängig von seiner finanziellen Herkunft, zu studieren. Wenn dieser Grundsatz mit Stipendien durchgesetzt wird, spielt die Höhe des Studiengeldes keine grosse Rolle.

Eine Senkung der Studiengebühren käme also auch für Sie nicht in Frage?

Ich sehe das gesamtheitlich. Das Stipendienwesen muss einbezogen werden. Wer studiert, weiss gar nicht, wie viel sein Studium die Allgemeinheit kostet. Die Gebühren sind ein kleiner Erinnerungswink, dass die Steuerzahler sehr viel für das Studium aufbringen. Wer die Gebühren nicht zahlen kann, soll natürlich unterstützt werden.

In Zeiten knapper öffentlicher Finanzen wird ein Studium in Ingenieurwissenschaften wegen der unmittelbaren wirtschaftlichen Verwertbarkeit positiver eingeschätzt als z.B. eines der Geisteswissenschaften. Was halten Sie einer solchen Argumentation entgegen?

Da stehen sich zwei Ziele gegenüber. Beide sind berechtigt: Der Einzelne möchte seine persönlichen Neigungen entfalten, und die Gesellschaft möchte Berufe fördern, die ihr etwas bringen. Diese beiden Ziele ergänzen sich, wenn jede ausgebildete Theologin und jeder Ingenieur eine Arbeit in seinem Beruf findet und so der Stellenbedarf der Gesellschaft abgedeckt wird. Das ist aber Theorie, denn dieser Bedarf wandelt sich immer und ist nur beschränkt planbar. Damit sowohl die individuelle Entfaltung bei der Studienwahl als auch der gesellschaftliche Anspruch auf Fachleute in allen Sparten unter einen Hut gebracht werden können, braucht es entweder staatliche Steuerung, oder es muss jeder Einzelne grosse Flexibilität üben.

Kennen Sie Beispiele für diese Flexibilität?

In meinem Departement arbeitete eine Frau, die Slawistik studiert hatte. Sie wurde Fachexpertin für Verkehrsfragen. Michael Kaufmann war bei mir Vizedirektor des Bundesamtes für Energie, und heute leitet er das Departement Musik an der Hochschule Luzern. Die Chefin Personenverkehr bei der SBB ist ETHArchitektin. Berufliche Flexibilität kann sehr bereichernd sein – für das Individuum und für die Gesellschaft.

Immer mehr Hochschulen betreiben nach angelsächsischem Vorbild Fundraising. Novartis, Syngenta, UBS oder Nestlé sponsern ganze Lehrstühle und Institute. Wie stehen Sie solchen Engagements von Unternehmen gegenüber?

Mein Ideal ist das nicht. Es ist Aufgabe der Allgemeinheit, die Sozial-, Kulturund Bildungspolitik zu definieren und mit gerechten Steuern dafür zu sorgen, dass genügend Mittel vorhanden sind, um diese geistigen Infrastrukturen der Gesellschaft zu unterhalten. Die angelsächsischen Länder haben ein anderes Grundverständnis: So lebt etwa die Kultur fast ausschliesslich von privaten Geldern. Diese können Gönner von den Steuern absetzen, und es gehört moralisch zum guten Ton, sich finanziell für die Kultur einzusetzen. Ich bevorzuge unser System, weil ich befürchte, dass sich die Demokratie sonst das Ruder aus der Hand nehmen lässt. Wichtiger scheint mir heute, mit Leitplanken sicherzustellen, dass Lehre und Forschung nicht von privaten Interessen dirigiert werden.

Moritz Leuenberger

Wie intensiv verfolgen Sie noch die Fortsetzung Ihrer Departementspolitik?

Natürlich verfolge ich die Entwicklungen. Es vergeht keine Woche, in der die Medien nicht scheinheilig um einen Kommentar fragen. Ich weiss sehr wohl, dass dies nur in der Absicht erfolgt, Differenzen mit meinen Nachfolgern zuzuspitzen. Deshalb äussere ich mich zu Fragen, die das Departement betreffen, nicht öffentlich, höchstens in einer sehr allgemeinen und abstrakten Weise.

In einem Interview, das Sie gemeinsam mit Ihrem Sohn gegeben haben, bezeichneten Sie Ihre Generation als «fast ein wenig parasitär» – wie haben Sie das gemeint?

Mich nervt, wenn rüstige Menschen nur noch reisen, wandern, Pilze sammeln und Kurse besuchen, also nur noch konsumieren. Solange sie etwas leisten können, sollten sie auch etwas tun. Dieses Zelebrieren des Pensionsalters stört mich. Wir werden älter als damals, als das Rentenalter als Fortschritt der Sozialversicherung eingeführt wurde. Es gibt eine neue Lebensphase, die es vor 100 Jahren noch nicht gab, einen «Herbst des Lebens». Ihn ausschliesslich dazu zu nutzen, sich selbst zu verwirklichen, finde ich parasitär. Es gibt verschiedene Varianten, um dieser Ungerechtigkeit beizukommen. Man kann sich individuell und freiwillig einsetzen. Der Staat kann aber auch das Rentenalter erhöhen.

Jetzt werden Ihre Parteikollegen aufheulen, die Sozialdemokraten sind doch gegen eine Erhöhung des Rentenalters …

Es können ja auch nicht alle weiterarbeiten. Jemand, der auf dem Bau gearbeitet hat, ein Gipser zum Beispiel, müsste wohl sogar früher pensioniert werden. Aber das heutige Modell, wonach ein Arbeitnehmer stets mehr verdienen, mehr leisten und dann von einem Tag auf den anderen aufhören muss, entspricht nicht der Kurve seiner Leistungsfähigkeit. Mir schwebt vor, dass man mit steigender Leistungskraft mehr arbeitet und nachher langsam wieder etwas zurückfährt, auch weniger verdient, aber insgesamt länger als bis 65 arbeiten kann. Bis ein derartiges Modell umgesetzt ist, braucht es individuelle Flexibilität der Sozialpartner und auch der Sozialgesetze.

Als «Pensionierter» füllen Sie neben anderen Tätigkeiten ein Verwaltungsratsmandat bei der Baufirma Implenia aus – weil Sie etwas dazu beitragen wollten, Nachhaltigkeit in der Wirtschaft umzusetzen. Was haben Sie bisher erreichen können?

Implenia hat im September ihren ersten Nachhaltigkeitsbericht vorgestellt. Das ist ein grosser Fortschritt, denn es mussten zunächst umfangreiche statistische Erhebungen durchgeführt werden, um die Entwicklung überhaupt messen zu können. Die Tätigkeit im Verwaltungsrat erinnert mich an jene im Bundesrat: Der Weg von der strategischen Vorgabe bis zur Umsetzung an der Basis ist sehr lang. Doch der Wille zur Nachhaltigkeit ist in der Baufirma zum Glück da. Die Schwierigkeiten zeigen sich eher im Verhältnis zu den Bauherren, die kurzfristig billigere Lösungen vorziehen.

Als Bundesrat haben Sie während zweier Jahre einen Blog geführt. Würde es Sie nicht reizen, diesen wieder zu aktivieren?

Ich habe den Blog mit Freude und Lust geführt und auch gute Diskussionen gehabt. Aber mit der Zeit sind die Kommentare immer primitiver geworden. Die Demokratisierung, die mit diesen Medien verbunden ist, hat auch eine hässliche Seite. Als die Anrempeleien zu ermüdend und belastend wurden, habe ich aufgehört. Aber der Blog gab mir die Möglichkeit, etwas zu sagen, wonach ich nicht gefragt worden bin. Zu schreiben, was mich und nicht die Journalisten interessiert, vermisse ich schon ein wenig.

Interview: Sigrid Cariola