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Schweizer Illustrierte: Zum Rücktritt Hildebrand


Interview von Stefan Regez, Schweizer Illustrierte, 18. Januar 2012 

Philipp Hildebrand, Karl-Theodor zu Guttenberg, Christian Wulff, Bruno Zuppiger - alles unterschiedliche Fälle. Und doch: Verträgt es heute in öffentlichen Ämtern gar nichts mehr? Gilt Null-Toleranz?

Moritz Leuenberger: Ja, ich stelle eine Tendenz fest, dass Leute in öffentlichen Ämtern inquisitorisch beurteilt werden. Dabei geht es nicht nur um eine ehrliche Diskussion darüber, wie sie sich anständig verhalten sollen. Sondern das ist oft auch gesteuert von politischen Gegnern und medialen Jägern.

Plädieren Sie für ein grenzenloses „Alles ist möglich“?

Natürlich gibt es Grenzen, in erster Linie rechtliche. Daran haben sich alle zu halten. Es gibt auch Grenzen des Anstandes. Diese gelten für alle, unabhängig von Amt und Würden. Es ist aber auch nicht so, dass jeder Fehler untolerierbar wäre. Alle Menschen machen Fehler, und es gehört zum Umgang zwischen Menschen, dass man sich gegenseitig Fehler verzeiht. Nicht jeder Fehler führt zu einer fristlosen Entlassung. Das muss auch für Leute in öffentlichen Ämtern gelten. Die übertriebene Erwartung, dass jemand fehlerlos sein muss, ist in Wirklichkeit eine Heuchelei. Wer die Fehler nicht akzeptiert, akzeptiert auch die Menschen nicht.

Hat diese Akzeptanz abgenommen?

Ich beobachte eine rigorose Prüderie. Aber Intoleranz und Hetzjagden gegenüber Personen in öffentlichen Ämtern gab es immer: So verübte ein Bundesrat nach einer Kampagne gegen ihn Suizid (Fridolin Anderwert 1880, Anm. d. Red.). Heute kommt dieses Mobbing durch Internet, Twitter, Blogs und die Medien jedoch krasser zum Ausdruck.

Wie haben Sie denn die Affäre Hildebrand erlebt?

Wie alle anderen auch: als Konsument der Medien.

Ganz abgeschnitten vom Berner Informationsfluss?

Natürlich hätte ich in Bern noch ein paar "Spione", aber das mache ich nicht. Nein, seit meinem Rücktritt war dies das erste Ereignis, das ich nur von aussen beobachtet habe. Bei anderen Geschäften war ich vorher irgendwie noch dabei gewesen. Der Fall Hildebrand hat mich sehr bewegt, und ich habe mich immer wieder gefragt: Hätte man das nicht anders lösen sollen?

Besseres Krisenmanagement? Bessere Kommunikation? Kein Rücktritt?

Sehen Sie, als alt Bundesrat will ich nicht in die Rolle des Besserwissers kommen und sagen, wie man es hätte machen müssen oder wie ich es gemacht hätte. Was aber klar ist: Die Hildebrand-Affäre hätte auch einen anderen Verlauf nehmen können.

Haben Sie als Bundesrat auch Momente erlebt, die für Sie heikel waren?

Es war mehrmals heikel. Mein Rücktritt wurde auch immer mal wieder verlangt, aber das gehört zum politischen Spiel. Ein Beispiel: Ich habe mal eine Parkuhr nicht gefüttert, es wurde öffentlich, und es gab tatsächlich Politiker, die deswegen meinen Rücktritt gefordert haben. Klar war das ein Regelverstoss von mir, aber nicht jede Rechtswidrigkeit führt auch zu einer Unvereinbarkeit mit einem Amt.

Haben Sie sich denn einen Rücktritt mal ernsthaft überlegt?

Nicht wegen einem Fehlverhalten. Aber was mir oft durch den Kopf ging: Wenn ich als Fahrer in einen schweren Unfall involviert würde, könnte ich dann mein Amt weiter ausführen? Aus solchen Ängsten haben sich auch zwei Bundesräte nicht mehr selber ans Steuer gesetzt.

Wie haben Sie als Bundesrat eigentlich Ihr Geld angelegt?

Ich habe nie eine Aktie gehabt. Erst als meine Mutter vor ein paar Jahren gestorben ist, habe ich einige Aktien geerbt.

Sie hätten auch von Insiderwissen profitieren können, bei der Swisscom zum Beispiel.

Ja, das wäre möglich gewesen, aber falsch und unanständig.

Zählt nur die Eigenverantwortung - oder braucht es auch Reglemente?

Meine Idealvorstellung wäre eigentlich eine Gesellschaft ohne Gesetze und Verordnungen.

Der Jurist als Anarchist?

Als Verkehrsminister habe ich oft gesagt, dass der Strassenverkehr auch ohne Regeln funktionieren könnte. Man definiert, ob Rechts- oder Linksverkehr, der Rest wäre Vertrauensprinzip. Jeremias Gotthelf beschrieb das Ideal einer Gesellschaft, die nur auf gegenseitigem Respekt und Vertrauen, auf der Liebe zwischen den Menschen basiert. Aber das ist eben ein Ideal, eine Vision. Es braucht einen Staat, der Recht und Gesetze erlässt und diejenigen bestraft, die sich nicht daran halten.

Und alle klagen, dass wir immer mehr Gesetze haben.

Ja, eine bedauernswerte Entwicklung. Alle bedauern sie, aber trotzdem kann sie niemand aufhalten. Es ist auch keine Frage von links oder rechts. Es ist eine Folge abnehmender Bindungen, zunehmender Anonymisierung, auch mangelnder sozialer Kontrolle. Das hat alles auch einen Preis.

Vielleicht weil das Führungspersonal in Wirtschaft, Verwaltung oder Politik weniger integer ist als früher?

Das würde ich auf keinen Fall sagen. Aber ich sehe eine andere Ebene: Mit dem Fall des Kommunismus und der Globalisierung ist die wirtschaftliche Freiheit immer mehr als absolute Freiheit verstanden worden - ohne das Korrelat von Verpflichtung und ohne nationale Bindungen. Das hat auch zu einer Entfremdung und Entwurzelung geführt. Gerade was die internationalen Finanzmärkte betrifft, müssten daher die Staaten Regulierungen schaffen, weil die Freiheiten grenzenlos missbraucht worden sind.

Die Gier der Kapitalisten? Wer am Honigtopf sitzt, kommt in Versuchung!

Die Frage ist, wie Kapitalismus praktiziert wird. Jede Freiheit ist immer auch mit Verantwortung verknüpft. Masslose Boni sind nicht eine notwenige Folge des Kapitalismus, sondern eine verantwortungslose Verirrung, die wir in dieser Form niemals akzeptieren dürfen.

Ja?

Wir leben in einer Zeit, in welcher der ökonomische Wert absolut überhöht wird. Ich habe das als Umweltminister erlebt: Um den Wert der Biodiversität plausibel zu machen, rechnet man aus, was das Bestäuben der Blumen kosten würde, wenn es Hilfsarbeiter anstelle der Bienen tun müssten: Damit man ein Argument zum Schutz der Bienen hat. Oder es wurde der wirtschaftliche Nutzen einer Blaumeise auf 36,75 Franken bewertet. Dabei gibt es noch ganz andere Werte wie Achtung vor dem Leben, Nachhaltigkeit, Vertrauen, Liebe. Da müssen wir uns neu orientieren und umdenken.

Was meinen Sie konkret?

Eine nachhaltige Gesellschaft, nicht einfach nur vom Staat verordnet, sondern von Firmen und Konsumenten eigenverantwortlich gelebt. Da gibt es bereits viele positive Beispiele.

Sind dabei Finanzkrisen und Hildebrand-Affären auch heilsam?

Sie wären aber nicht etwa nötig und auch zu vermeiden gewesen. Aber wenn sie schon da sind, sollen wir sie wenigstens nutzen. Es ist kein Zufall, dass wir in diesem Gespräch mit dem Nationalbank-Präsidenten angefangen haben und nun bei Kapitalismus und Nachhaltigkeit gelandet sind. Aber nochmals: Den Jägern im Fall Hildebrand ging es nicht um Moral, sondern um scheinheilige Moralisierei, welche Züge einer Hexenjagd annahm.

Offenbar wünscht sich die Öffentlichkeit moralisch erhöhte Figuren, erwartet von einem Nationalbank-Chef absolute Integrität.

Ja, nur finde ich das eine ungute Entwicklung. Meine Idealvorstellung ist eine demokratische Gesellschaft, in welcher auch an der Spitze des Staates ganz normale Menschen wie du und ich sind, die auch ihre Fehler haben und Fehler machen. Es gab eine Zeit, in welcher die Pfarrer die Moralträger schlechthin waren. Heute sind auch sie geschieden und auch ihre Kinder haben Schwierigkeiten.

Heute reden Politiker gerne über Werte und Moral.

Ja und ich finde, Moralprediger müssen sich an ihren Predigten messen lassen. Aber die bigotten Moralvorstellungen haben sich auch geändert. Da haben wir in den letzten Jahren grosse Fortschritte gemacht: Franz Steinegger wurde damals nicht Bundesrat, weil er in Scheidung war. Ich war dann der erste geschiedene Bundesrat und vertrat so viele mit einem gebrochenen Lebenslauf. Heute ist das nicht mal mehr ein Thema.

Wir sind turbulent ins neue Jahr gestartet. Wie schätzen Sie die Lage der Nation ein?

Trotz der Hildebrand-Affäre habe ich Vertrauen, gerade auch in den neuen Bundesrat. Und ich stelle fest, dass es die Menschen bewegt, dass hier jemand zu Fall gebracht worden ist, der nicht hätte zu Fall gebracht werden müssen. Das zeigt doch auch, dass es Solidarität in unserem Land gibt. Wenn wir zusammenhalten, brauchen wir die Zukunft nicht zu fürchten.