Solidarität in der Schweiz?
Es gibt sie, die solidarische Schweiz
Interview in Surprise 287/12 von Monika Bettschen und Florian Blumer
Herr Leuenberger, wie nahe sind Sie heute, knapp zwei Jahre nach Ihrem Rücktritt aus dem Bundesrat, noch am politischen Geschehen?
Ich war mein Leben lang Politiker, schon als Schüler, also bin ich es auch heute noch. Politiker zu sein hat in der Schweiz nichts mit dem Beruf zu tun, es ist eine Haltung.
Die USA wählen gerade ihren nächsten Präsidenten. Wie haben Sie den Wahlkampf und das gigantische Spektakel darum erlebt?
Ich zitterte für Präsident Obama, für den ich sehr viele Sympathien habe. Er ist ein intellektueller Politiker, widmet sich sowohl grundsätzlichen Fragen und sucht dennoch in der Tagespolitik Kompromisse, die ihm oft verweigert werden. Auf der anderen Seite war das ein Wahlkampf, den ich verabscheue. Die Dominanz von Geld und Meinungsmanipulation ist erschreckend.
Politologe Wolf Linder spricht von einem Schaukampf, der mit Demokratie nicht mehr viel zu tun hatte…
Mich schaudert, denn bei uns sind solche Ansätze auch da. Das Geld ist das eine, die Steuerung der öffentlichen Meinung das andere. Nach dem ersten TV Duell galt Obama als schlechter, weil er zu wenig aggressiv und Romney besser, weil er so gut gestikuliert habe. Soll also derjenige Präsident werden, der besser mit dem Finger auf den anderen zeigt? Einige Wenige verbreiten solch oberflächliche Einschätzungen und alle Welt schnattert sie nach. Das ist Manipulation mit Geld und PR Profis und hat mit einer Demokratie selbständig denkender Bürger nichts zu tun.
Kommen wir auf die Schweiz zu sprechen. Wie in den USA ist man auch hierzulande stolz auf den Sonderfall, eine «Willensnation» zu sein. Was bedeutet dieser Begriff für Sie?
Der Ausdruck bildet den Gegensatz zur Kulturnation, die für einen Staat steht, der durch ein Volk, eine Sprache, eine Kultur gebildet wurde. Wir sind auf die Willensnation ja ganz stolz. Auch ich als Bundesrat habe immer wieder mit Überzeugung repetiert: Der Wille zu Solidarität mit allen Minderheiten ist gewissermassen die soziale Säule. Daneben braucht es auch die Säulen der wirtschaftlichen Infrastrukturen und der Ökologie. So wird die Eidgenossenschaft nachhaltig zusammengehalten.
Ist die «Willensnation Schweiz» nicht eher ein Mythos?
Schauen Sie, ich bin als Bundesrat in dieser Frage sehr misstrauisch gestartet. Ich empfand es oft als kitschigen Patriotismus, wenn unsere vier Sprachen und Kulturen, der Zusammenhalt von Stadt und Land oder zwischen den Religionen zelebriert wurden. Als ich aber Bundesrat wurde und vermehrt an Anlässen war, in die ich vorhin als Städter nicht kannte, an Schwing- und Hornusserfesten, da habe ich eine Schweiz entdeckt, die real so existiert. Es ist nicht nur Kitsch. Dieser Patriotismus wird zwar zum Teil von konservativen Kräften für sich reklamiert – darum war ich auch misstrauisch –, aber dahinter gibt es eine Schweiz, die wirklich solidarisch lebt. Das war für mich eine wunderbare Eröffnung.
Heute scheint der soziale Zusammenhalt aber unter dem Druck verschiedener Einflüsse wie Globalisierung oder Migration zu bröckeln. Täuscht dieser Eindruck?
Zunächst: Eine Willensnation wird nicht einmal geschaffen und bleibt dann auf Ewigkeit eine solche. Sie muss immer wieder neu entdeckt, neu verteidigt, neu gewollt werden. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, haben ökonomische Werte weltweit eine Vorherrschaft errungen. Das hat auch in der Schweiz Folgen: So werden Kultur und Bildung auch bei uns vermehrt durch Sponsoren beeinflusst und immer weniger durch den demokratischen Staat. Wirtschaftsführer oder «Patrons», die früher am politischen Leben teilnahmen, haben sich praktisch vollständig auf ihre wirtschaftliche Tätigkeit zurückgezogen – jetzt auch SVP-Nationalrat Peter Spuhler. Dieser Prozess führte zu einer Auflösung der früheren Verbundenheit zwischen Wirtschaft und Politik; das war auch ein Teil der Willensnation. Dazu kommt: Die Medien sind heute reine Wirtschaftsunternehmen und nur um ihre Auflage besorgt. Das führt zu Zuspitzung und Personalisierung. Wer Verantwortung übernimmt, setzt sich einem unbarmherzigen Bashing aus. Kein Mitleid für Bundes- und Nationalrat! Da weiss jeder, auf was er sich einlässt. Aber in der Gemeindepolitik ist das ein Problem: Wenig Leute sind noch bereit, das Amt eines Gemeinderates oder -präsidenten zu übernehmen.
Hängt das nicht auch mit einem generell geschwundenen Interesse an der Politik zusammen?
Ja, aber ich sage das beobachtend und nicht nostalgisch. In meiner Generation, den 68ern, stand für sämtliche Probleme der politische Aspekt im Vordergrund, heute ist es eher die Moral, das individuelle Verhalten. So denken die Leute in sozialen Fragen oder im Umweltschutz nicht mehr als erstes daran, was der Staat vorschreiben oder organisieren sollte, sondern was der einzelne beitragen könnte. Sie leisten Freiwilligenarbeit oder gründen ein Hilfswerk. Da hat sich ein Wandel vollzogen.
Dennoch leben wir noch immer mit Überzeugung das Modell der direkten Demokratie. Aus Ihrer Erfahrung als Bundesrat: Sind die Menschen politisch genügend gebildet, um tatsächlich mitreden zu können?
Die politische Wachheit in der Schweiz finde ich fantastisch. Ich erinnere mich an die Schwerverkehrsabgabe LSVA als Bestandteil der NEAT-Finanzierung: Da haben sich die Leute in den Medien, an Diskussionen und im Abstimmungsbüchlein bis ins Detail informiert. So war es möglich, den Gotthard-Basistunnel, ein gigantisches Bauwerk, ohne Kostenüberschreitung zu realisieren. Der Durchstich fand pünktlich statt, ganz im Gegensatz zu Stuttgart 21 oder dem Flughafen in Berlin. Die direkte Demokratie führt zu politischem Bewusstsein und zu Verantwortung.
Durch alle Schichten hindurch?
Die Unterschiede gehen quer durch alle Schichten. Man muss nicht meinen, Akademiker wüssten besser, worum es in der Politik geht. Es gibt bei uns den wachen Bürger, der sich rund ums Jahr orientiert und einbringt.
Gab es denn als Bundesrat nicht oft frustrierende Situationen – wenn Sie eine Vorlage mit viel Aufwand und in Zusammenarbeit mit Experten ausgearbeitet hatten, nur damit diese die Bürger mit einer Entscheidung aus dem Bauch heraus wieder verwarfen?
Die Trennung zwischen Kopf und Bauch sehe ich so nicht: Jeder Berufspolitiker braucht auch den Bauch! Man muss nicht meinen, da herrsche nur klarer Sachverstand. Politik ist immer Kopf und Herz. Und jene, die abstimmen, benutzen auch nicht nur den Bauch. Der Bauch wird vorherrschend, wenn die Wut hochkommt. Und das geschieht, wenn zu den Sachfragen nicht abgestimmt werden kann. So wurde in François Hollande vor allem gewählt, weil man eine Wut auf Sarkozy hatte. In der direkten Demokratie staut sich die Wut nicht an, weil man regelmässig abstimmen kann.
Sie haben eingangs den Einfluss von Meinungsumfragen in den USA erwähnt. Auch in Bezug auf die Schweiz haben Sie einmal gesagt, dass Politiker ihr Handeln oft eher nach Meinungsumfragen ausrichten als ihre eigene Meinung zu vertreten.
Ich sehe Meinungsumfragen als Gefahr. Erstens traue ich ihnen nicht: Die Leute äussern sich spontan zu einem politischen Problem, eben aus dem Bauch heraus, weil sie sich nicht vorbereiten konnten. Vor einer Abstimmung wird aber breit diskutiert. Dann gibt es die Beliebigkeit von vielen Politikern, die sich nach Umfragen richten. Zur ehrlichen Politik gehört, auch eine Minderheitsposition zu vertreten und sich nicht immer nur der Mehrheit anzupassen, weder im Inhalt noch im Stil. Der französische Justiziminister Robert Badinter zum Beispiel wusste, dass die Mehrheit der Franzosen die Todesstrafe wollte. Er stellte sich gegen diese Meinung. In den Umfragen hat er trotzdem geführt, weil die Leute sich sagten: Der steht zu seiner Meinung!
Neben der Ökonomisierung der Gesellschaft – sehen Sie weitere Gefahren, welche die Globalisierung für die Willensnation Schweiz bringt?
In den vergangenen Jahren sind wirtschaftliche Eliten aus dem Ausland in die Schweiz gezogen. Sie leiten hier multinationale Gesellschaften und kennen unser politisches System kaum, wissen gar nicht, was ein Bundesrat ist. Sie schotten sich ab, reden Englisch untereinander, ihre Kinder besuchen Privatschulen – weil sie in vier, fünf Jahren sowieso wieder wegziehen. Das ist für den Zusammenhalt im Land eine Gefahr. Ein weiterer Punkt ist die globalisierte Kommunikation. Indem wir immer mehr Medien aus Ländern konsumieren, nehmen wir auch deren Politstile auf. Viele liebäugeln mit einem Mehrheits- Minderheitssystem. Dass der Bundesrat ein kollektiv verantwortliches Gremium ist, weiss bald niemand mehr. Man spricht vom Post- oder Verteidigungsminister und betont immer die Parteizugehörigkeit. Der Bundesrat ist aber als Gesamtes für alle Geschäfte verantwortlich und soll über den Parteien stehen. Das gehört auch zur Willensnation.
Wie gut arbeiten aus Ihrer Sicht die politischen Minderheiten in der Schweiz heute noch zusammen?
Das Bewusstsein für Minderheiten ist bei uns tief verankert. So werden zum Beispiel kantonale Regierungen von den Wählern stets proportional zusammengestellt, obwohl sie ja im Mehrheitswahlverfahren gewählt werden. Die Wähler wollen ganz bewusst sowohl Freisinnige als auch Sozialdemokraten, auch die Grünen sollen eingebunden werden. Das hohe Nein zur Nichtraucherinitiative beweist: Auch Nichtraucher haben nein gesagt, aus Solidarität mit den «armen Raucherlein», die nirgends mehr hindürfen.
Wie sieht es bei den kulturellen Minderheiten aus? Um das Thema Röstigraben ist es in letzter Zeit ruhiger geworden, es scheint ein Stück weit von der Auseinandersetzung um die Gruppe der Migranten abgelöst worden zu sein…
Richtig, wobei dies ja nicht nur schlecht ist. Die Schweiz ist nicht Ballenberg. Es muss nicht alles so bleiben wie früher. Zu den klassischen vier Kulturen, die man in der Schule aufzählt, stossen neue hinzu. Damit sind wir gefordert und das macht ja auch das Wesen einer Willensnation aus. Wir befinden uns in einem politischen Prozess. Von Seiten der Landesregierung, von NGOs und von vielen Parteien ist der Wille da, diese Integrationsarbeit zu leisten.
Die Solidarität mit Ausländern stösst jedoch an Grenzen, wie zum Beispiel in der Diskussion über das Asylgesetz zum Ausdruck kommt. Und diese Gruppe kann politisch auch nicht mitbestimmen.
Ausländer haben kein Stimmrecht, das ist verständlich. Heikler ist, wer warum Ausländer bleiben muss. Wir haben eine restriktive Einbürgerungspraxis. Dennoch können wir nicht pauschal sagen, die Schweizerinnen und Schweizer seien nicht solidarisch mit Ausländern. Es gibt Kräfte, wie zum Beispiel Ihr Magazin, die sehr solidarisch sind und es gibt Kräfte, die das nicht wollen. Das sind Auseinandersetzungen, die jedes Land führt, nicht nur die Schweiz.
Aber jene Kräfte, die diese Integration nicht wollen, schlagen einen immer schärferen Ton an.
Demagogie, Volksverführung, Populismus, dieses Vorgaukeln von einfachen Lösungen, das hat es schon immer gegeben. Und es ist sicher auch früher schon so gewesen, dass, wer die nötigen Mittel hatte, auch grösseren Einfluss nehmen konnte. In Frankreich und in den USA zum Beispiel hat das aber heute gewaltige Dimensionen angenommen. Diese Entwicklung dringt auch zu uns vor. Da müssen wir sehr, sehr wachsam sein. Ich habe aber die Hoffnung, dass die Wähler reagieren. Auch innerhalb der SVP steigt das Misstrauen, wenn derart offensichtlich der politische Einfluss gekauft werden kann.
In Ihrer Abschiedsrede vor dem Parlament haben Sie die Politik mit einem Theaterstück verglichen…
„Wir treten auf, wir spielen, wir treten ab.“ Das Leben ist eine Bühne und die Politik erst recht. Dass Politik und Theaters Zwillinge sind, habe ich immer wieder betont. Aber wichtiger als die Ausdrucksmittel ist der Inhalt. Wer schreibt das Stück? Wer führt Regie? Im US-Wahlkampf sind es Geld und Meinungsmanipulatoren. Wachen wir darüber, dass es bei uns die Stimmbü ihrer Vernunft und ihren Hn herzen Stimmbie Regie? erden. sammengestelte Minderheitn da sein sollte spricht von Verkehrsministrger bleiben - mit ihrer Vernunft und mit ihren Herzen.
Das Interview ist mit den Fotografien auf der homepage von Surprise zu finden:
http://www.vereinsurprise.ch/magazin/archiv2012/surprise-28712/