Mein Vater
«Als sich mein Vater den 68er Revoltierenden entgegenstellte, konnte ich nicht anders als ihn bewundern»
Väter prägen unser Leben – aber was bleibt von ihnen? Zweimal im Monat befragen wir Prominente über ihre Beziehung zu ihrem Vater. Dieses Mal: alt Bundesrat Moritz Leuenberger.
Samstag, 2. Oktober 2021
1. Beschreiben Sie Ihren Vater mit drei Eigenschaften.
Moralisch hart, auch sich selber gegenüber. Scharfsinnig, stets suchte er den Gegenstandpunkt, um die eigene Ansicht zu überprüfen. Sprachlich präzis. Noch als Bundesrat übernahm ich Redewendungen von ihm, zum Beispiel bei einem Flugzeugabsturz: «Wir wussten, dass es stets ein Restrisiko gibt, dass so etwas geschehen könnte. Doch nun hat das Risiko Gestalt angenommen.»
2. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm: Was sind typische Merkmale, die Sie als Sohn Ihres Vaters kennzeichnen?
Er litt unter dem Schablonendenken, darunter, wie er in akademischen oder kirchlichen Kreisen undifferenziert in Schubladen eingeteilt wurde. Er war nie ein Ideologe, und ich finde, ich bin das auch nicht. Mich nervt, wenn von einer differenzierten Meinung nur ein Teil zur Kenntnis genommen oder wenn ein denkender Mensch nur gerade auf die Parteizugehörigkeit reduziert wird.
3. Komplettieren Sie folgenden Satz: Anders als meine Mutter ist mein Vater . . . . . .
moralisch rigoros und kompromisslos. Das war für uns Heranwachsende nicht gerade einfach.Für unsere Nöte hatte die Mutter mehr Verständnis, und sie konnte auch einmal ein Auge zudrücken.
4. Was hat Sie Ihr Vater gelehrt über das Leben?
Seine erzieherischen Absichten erfüllten sich meist nicht so, wie er sich das vorstellte. Er nahm mich zum Beispiel schon sehr früh mit in akademische Vorträge oder Predigten. Dort verstand ich kein Wort und gewöhnte mir bald an, gar nicht erst hinzuhören. Ich lernte aber, auf das Publikum zu achten. Wenn es ernst wurde und die Leute betroffen dreinblickten, schaute ich auch ernst und betroffen drein. Wenn ein Witzlein durch den Saal wehte und die Zuhörer lächelten, lächelte ich verständnisvoll mit, obwohl ich nichts begriff. Ich lernte also, einen interessierten Anschein zu erwecken, aber gar nicht zuzuhören. Leider ist mir das geblieben. Noch als Bundesrat sass ich in vielen Sitzungen und hörte überhaupt nicht zu, konnte aber so reagieren, wie die Leute es wollten. So habe ich etwas Wichtiges für das Leben gelernt, auch wenn mein Vater es sich wohl anders vorgestellt hatte.
5. . . . über die Liebe?
Die Menschenliebe als Fundament der Gesellschaft hat er mit Überzeugung gepredigt, und er praktizierte sie auch. Er liebte Menschen vorurteilslos, die nicht seine intellektuellen Fähigkeiten hatten. Das war keine Masche von oben herab, sondern eine echte Bewunderung dafür, wie sie mit dem Leben umgingen. Doch jeder Anflug von Sexualität, ein Wort, das wir damals nicht einmal kannten, war das Böse schlechthin. Schon nur Blicke zum anderen Geschlecht galten als schlimme Sünde; jede sinnliche Freude wurde im Ansatz erstickt.
Moritz Leuenberger und sein Vater
Moritz Leuenberger wurde 1946 in Biel geboren, besuchte in Basel das Gymnasium und absolvierte ein Jurastudium an der Universität Zürich. Danach führte er bis 1991 ein eigenes Anwaltsbüro in Zürich. Seit 1969 ist er Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. Seine politische Karriere lancierte Moritz Leuenberger 1974 als Gemeinderat der Stadt Zürich. Ab 1979 war er Nationalrat, ab 1991 Zürcher Regierungsrat,bis er 1995 in den Bundesrat gewählt wurde. Er amtete zweimal als Bundespräsident und stand 15 Jahre lang dem Departement für Umwelt,Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) vor.2010 trat er aus dem Bundesrat zurück. Leuenberger ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne. Sein Vater, Robert Leuenberger (1916–2004), war Professor für Theologie und zwischen 1974 und 1976 Rektor der Universität Zürich.
«Mein Vater pflegte die Ironie und trieb sie auf die Spitze. Ich eiferte ihm nach und musste später lernen, mir dies abzugewöhnen.»
6. . . . über Geld?
Seinen Monatslohn verteilte er in mehrere kleine Schubladen, die je für bestimmte Ausgaben vorgesehen waren, für Essen, Versicherungen, Bücher usw. Die grösste Summe betraf Spenden an soziale Einrichtungen. Das ärgerte die Mutter, die über zu wenig Haushaltgeld klagte. War eine Schublade leer, wurde für diesen Posten im laufenden Monat nichts mehr ausgegeben. Jede Art von Schulden war tabu. Das war eigentlich eine analoge Budget- und Ausgabenpolitik. Er fuhr auch kein Automobil, weniger aus ökologischen als aus ökonomischen Gründen.
7. Erzählen Sie von Ihrem prägendsten Erlebnis mit Ihrem Vater.
Als in der 68er Zeit an der Uni Zürich rebelliert und versucht wurde, mit Sitzstreiks den ganzen Betrieb lahmzulegen, hat er keine Ordnungskräfte geholt, sondern stellte sich ganz allein vor die Protestierenden. Etliche waren aus Deutschland und Frankreich angereist, unter ihnen Daniel Cohn-Bendit,um hier einer Revolte zum Durchbruch zu verhelfen. Mein Vater hat sich ihnen gestellt, ist auf jedes Votum engagiert eingegangen. Einige Forderungen hat er entgegengenommen, Massnahmen dazu angekündigt und auch durchgeführt. Ich schaute aus einer Ecke verstohlen zu, hin- und hergerissen zwischen ihm und den Revoltierenden, für die ich ja auch Sympathien hatte, und konnte nicht anders als ihn bewundern.
8. Was wollen Sie anders machen als Ihr Vater?
Ich wollte meinen Söhnen jede Freiheit für die Gestaltung ihres Lebens lassen und sie nicht in meine moralischen Vorstellungen zwingen.
9. Worüber haben Sie sich bei Ihrem Vater stets genervt, das Sie nun aber genauso machen?
Mein Vater pflegte die Ironie und trieb sie auf die Spitze. Er spielte damit, Ansichten zu vertreten, an die er gar nicht glaubte. Das wirkte oft elitär, weil man nicht mehr begriff, wo er eigentlich stand. Aber ich sog das als Kind auf und eiferte ihm nach. Noch in meinen politischen Rollen ironisierte ich dermassen, dass ich manche verunsicherte. Ich musste lernen, mir dies abzugewöhnen. So ganz ist es mir noch nicht gelungen.
10. Ein Satz, den Ihr Vater oft zu Ihnen sagte?
«In der Meinung von jedem Gegner steckt immer auch ein Körnchen Wahrheit. » Auch diese Überzeugung nahm ich in meine Arbeit. Bevor wir im Departement einen Entscheid fassten, fragte ich immer wieder: «Was sagen unsere politischen Gegner dazu? Wie würden wir einer Untersuchungskommission oder den Medien antworten, wenn wir später einmal dazu befragt würden?»
11. Was wollten Sie Ihren Vater immer einmal fragen?
Du bist intellektuell. Du bist rational auf einer kaum erreichbaren Stufe. Und bist du wirklich trotzdem gläubig?
Aufgezeichnet: Esthy Rüdiger