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1. August in Horgen


Horgen 1. August

Liebe Horgnerinnen

Liebe Horgner

 Der 1. August ist unser Nationalfeiertag. 

Jedes Land begeht den Nationalfeiertag auf seine Weise. 

 Viele feiern ihn mit einer Militärparade mit vielen Generälen und Raketen auf Sattelschleppern und Panzer, die durch die Hauptstadt rollen. 

Wir feiern ihn mit einem Lampionumzug, mit Kindern, mit einem Feuerwerk. 

Und die Kinder dürfen ganz lange aufbleiben.

Meine Mutter belegte Brötchen mit Tomaten und weissem Käse als Schweizerkreuze. 

Wir sangen die Nationalhymne. Sie hiess damals «Heil dir Helvetia» und war einfach zu singen. Es war aber die gleiche Melodie wie die englische Nationalhymne «God save the Queen». Es kam immer wieder zu Verwechslungen, vor allem bei Fussballmatchs. Letzten Sonntag wäre das besonders verwirrend herausgekommen: Die Welt hätte geglaubt, unsere Fussballerinnen hätten den Final gewonnen (verdient hätten sie es zwar). Aber der Bundesrat hat seit einiger Zeit eine neue Nationalhymne beschlossen: «Trittst im Morgenrot daher.» 

Es ist ein Psalm, es geht um den lieben Gott und die Alpen. 

 Die Nationalhymnen anderer Länder sind meist Schlachtgesänge. 

Die Franzosen singen 

«aux armes citoyens!» 

 Die Italiener singen noch heute

 

Italien hat gerufen!

Lasst uns die Reihen schließen,

Wir sind bereit zum Tod,

Und:

Der österreichische Adler

Hat schon die Federn verloren.

Das Blut Italiens,

Hat er mit dem Kosaken getrunken.

Aber sein Herz hat es verbrannt.

 (Nicht nur am Nationalfeiertag singen sie das, auch bei Fussballländerspielen. Aber zu ihrer Entschuldigung können wir annehmen, das die wenigsten den Text kennen, so wie bei uns auch…) 

 Dass wir einen Psalm als Nationalhymne haben, wird immer wieder kritisiert. 

 Aber ehrlich gesagt, ein Psalm, ist mir immer noch lieber als diese martialischen Schlachtgesänge.

 Der 1. August wird bei uns auch nicht an einem einzigen zentralen Ort, in der Hauptstadt gefeiert, sondern in Dörfern, in städtischen Quartieren oder in einem städtischen Dorf wie Horgen. 

 Der Ausdruck städtisches Dorf ist eine geniale Beschreibung, man könnte sagen, eine horgeniale Beschreibung. 

Aber es gibt einen heiklen Punkt: Nach den Richtlinien des UVEK bedeutet «städtisches Dorf», dass dort Tempo 30 gilt, jedoch in einer «dörflichen Stadt» Tempo 50. Für das UVEK gilt die Unschuldsvermutung.

 Wir machen uns am 1. August Gedanken über unser Land, 

-              über unsere Unabhängigkeit, 

-              über unsere Neutralität,

-              über unsere direkte Demokratie

-              über unseren Umgang mit der Umwelt 

-              über unser Verhältnis zu den europäischen Nachbarn und zu allen anderen Ländern der Welt. 

-              über unser Verhältnis untereinander, Röstigraben, zum Frühfranzösisch, den Graben zwischen Stadt und Land, die Gräben zwischen rechts und links. 

 Das sind seit vielen hundert Jahren dieselben Fragen. Aber unsere Antworten darauf haben sich immer wieder verändert. Warum?

 Weil sich die Welt um uns verändert und weil wir uns in dieser Welt auch verändern. 

 Es ist nicht nur der Saharastaub, es ist nicht nur der Rauch aus Waldbränden in Kanada und es ist nicht nur der weltweite Klimawandel, die uns prägen. 

Es sind Kriege in der Ukraine, im Nahen Osten, in Afrika. Es sind die Zölle der USA. 

Ausgerechnet am heutigen Tag verhängt der US-Präsident verglichen mit der EU mehr als den doppelten Ansatz für die Schweiz.  

Das bringt enorme Auswirkungen auf unsere Preise Arbeitsplätze und die Anlagen, auch der Pensionskassen.

Verändert wird unser bilaterales Verhältnis zur EU. 

 Wie sollen wir auf diese Veränderungen reagieren?

Das war und ist in unserem Land immer sehr umstritten.

Bilaterale Verträge? Rahmenabkommen? Wie auf spätere Rechtsänderungen der EU reagieren? Ich las an einer Hauswand in Horgen die Antwort: 

«Ja? Nein? Vielleicht?»

Vielleicht gibt ja die Ausstellung mit diesem Titel über Liebe und Heirat auch zu dieser Beziehung eine Antwort (obwohl es zwischen der EU und der Schweiz im Maximum zu einem Konkubinat, aber nicht zu einer Heirat kommen wird) . 

 Unsere Neutralität: Was bedeutet sie im Detail? Sie ist immer wieder anders verstanden worden. Wie sollen wir sie jetzt ausgestalten? 

 Am 1. August diskutieren und denken wir darüber nach. 

Doch es gehört auch zur Tradition des 1. Augustes, dass der eingeladene Redner sein Privileg, sprechen zu dürfen, nicht einfach dazu nutzt, seine eigene Meinung zu propagieren. 

 Wichtiger ist, das zu unterstreichen, was uns trotz politischer Differenzen zusammenhält.  

 Es gibt Grundsätze, die uns wichtig sind und denen wir treu bleiben, trotz aller Einflüsse von aussen, trotz allen nötigen Anpassungen. 

 Es ist der Sinn des heutigen politischen Rituals des 1. Augustes, an diese Grundsätze zu erinnern.

 Es gibt Demokratien in Amerika und Europa, die sind gespalten. Dort hassen sich die verschiedenen Parteien (meist sind es nur noch zwei). Sie sprechen nicht miteinander. Es herrscht ein Klima von «entweder Feind oder Freund». 

 Es zeichnet die direkte Demokratie unseres Landes aus, dass wir keine politischen Feinde kennen, sondern nur politische Gegner. 

 Um diese Konkordanz zu erleichtern, gibt es andere politische Rituale unserer direkten Demokratie: 

Das Schulreisli in den Kanton des Bundespräsidenten 

(es hat 2001 in den Bezirk Hogen geführt) 

und das gemeinsame Essen nach jeder Regierungssitzung in allen Kantonen und im Bundeshaus. Erst dort, wo die Regierungsmitglieder aus ihren zugeteilten Rollen treten können, sind dann Sätze möglich wie: « Ja, du hast recht. Ich ändere meine Meinung.» 

Jeder politische Gegner vertritt auch ein Körnchen Wahrheit. Und dieses Körnchen gilt es zu finden und zu anerkennen. Nur so ist ein Kompromiss zum Wohle Aller möglich. 

 Unser politisches System erlaubt auch, dass es Freundschaften über die Parteien gibt. Ein Beispiel habe ich mit einem Horgner in der Zürcher Regierung 

 (Hans Hofmann) erlebt und durfte ähnliche Erlebnisse später wieder im Bundesrat haben. 

Ohne Freundschaft über die Partei Grenzen hinweg gibt es keine Demokratie. 

 Wir wollen auch nicht, dass sich zu viele politische Macht auf einer Person oder einer Partei zusammenballt. 

 Das gilt in der Politik. Im Sport ist es nicht so leicht umzusetzen. Gegen die Dominanz der Horgner Wasserballer ist nichts zu machen.)

 Aber in der Politik gibt es das Rotationsprinzip: 

 Deswegen haben wir jedes Jahr eine andere Bundespräsidentin oder Bundespräsidenten. Das verstehen im Ausland nicht viele. Ich erinnere mich an das höhnische Lachen von Donald Trump, als ihm unsere damalige Bundespräsidentin unser Rotationsprinzip erklären wollte. Ich erinnere mich an einen Artikel in einer Finanzzeitung, wo errechnet wurde, dass die Schweiz als das instabilste Land der Welt sei: 

Es habe in den letzten dreissig Jahre dreissig verschiede Präsidenten gehabt.

 Deswegen auch unser Proporzsystem:

 Jede starke Bewegung, jede starke Partei soll in die Mitverantwortung in die Parlamente und in die Regierungen einbezogen werden. Das ist ein Unterschied zu unseren Nachbarländern. Zu dieser Verantwortung gehört es, um einen Kompromiss zu ringen und ihn finden. Das gilt für städtische Dörfer und es gilt für Bundesbern. 

 Es sind nicht nur Politiken, mit ihrem Stil und ihrem Inhalt, die unser Zusammenleben bestimmen. 

 Es sind auch Technologien, die uns beeinflussen, wie wir denken, was wir fühlen, was wir wollen und was wir können. 

Das ist seit jeher so: die Erfindung des Rades, des Buchdrucks, in der Schweiz besonders die Eisenbahn, die Wasserkraft und Elektrizität.  

Heute sind es künstliche Intelligenz, die Gesichtserkennung und die sozialen Medien.  

 Die Digitalisierung hat unser Leben bereits revolutioniert und uns enorme Vorteile gebracht. 

 (Es ist zwar nicht immer ganz leicht, mit der neuen Technologie umzugehen; 

die online Tickets auf der Fähre Horgen / Meilen haben das am Anfang auch gezeigt) 

 Auch die künstliche Intelligenz verspricht Vieles. 

Für die heutige 1. August Ansprache habe ich ihr auch eine Frage gestellt:

 Ich fragte sie: 

 «Was würde Willhelm Tell zum bilateralen Rahmenabkommen mit der EU sagen? Hast du mir ein Zitat?»

 Die Antwort:

« Wenn du Willhelm Tell in die heutige Zeit versetzen willst und ihn zu den bilateralen Verträgen zitieren willst, kommt es sehr darauf an, wie du zu diesen Verträgen stehst. 

Denkst du traditionell – patriotisch, möchtest du einen Tell, der skeptisch gegenüber supranationaler Einbindung ist und mit Misstrauen auf Brüssel blickt, ähnlich wie einst gegenüber den Habsburgern.

Du würdest du ihm etwa folgendes Zitat in den Mund legen: 

„Ich spann’ den Bogen nicht für fremde Herren! Die Eidgenossenschaft ward nicht geboren, um sich einem neuen Kaiser zu beugen – ob mit Zepter oder Bürokratenstempel.“

 Bist du aber eher ein Pragmatiker und verstehst Freiheit als Selbstbestimmung, dann wäre Wilhelm Tell kein Isolationist, sondern ein Verteidiger der direkten Demokratie. Du würdest ihn so zitieren: 

„Freiheit heißt nicht Abschottung, sondern Entscheidung aus eigenem Willen. Wenn das Volk beschliesst, Verträge zu schließen, die unser Wohl sichern, dann ist das kein Kniefall – sondern kluge Eigenständigkeit.“

 Die KI hat mich überrascht. Was sie noch bringen wird?

 (Es sei sogar diskutiert worden, einem Auto einen Stopper einzubauen, damit es bei der Einfahrt in die Fähre nicht geradeaus ins Wasser fährt. Das Projekt ist aber gestoppt worden, weil es bei einem so guten Seerettungsdienst überflüssig sei.)  

 Wie bei jeder Technologie müssen wir auch die Risiken sehen, die sie uns Menschen und unserer Gemeinschaft bringt. 

 Digitalisierung kann uns in Abhängigkeiten von fremden Herrschern bringen. 

Das sind nicht mehr die Habsburger in Österreich, sondern eher die Herren im Silicon Valley in den USA. 

Sie streben mit ihren Monopolen nach Macht, nach Weltmacht. Sie wurden denn auch mit dem neuen Präsidenten der USA vereidigt. 

 Unterdessen haben sie zwar schon Krach mit ihm und gründen eine eigene Partei. Doch das ist ein kleiner Trost. 

 Als kleines Land können wir uns kaum gegen diese Übermacht wehren. Wie oft antwortete doch der Bundesrat auf Anfragen aus dem Parlament etwas hilflos: 

 Wir müssen abwarten, was die EU für Massnahmen gegen Google, Apple und Twitternachfolger X unternimmt. (Nur so viel zu unserer faktischen und politischen Abhängigkeit.) 

 Eine unkritische Abhängigkeit von künstlicher Intelligenz ist nichts anderes ist als eine Verbeugung vor einem neuen Gessler Hut. 

 Eine Abhängigkeit ergibt sich auch aus der Unterwerfung unter die Technologie. Wenn wir uns nur vorprogrammierte Antworten auf unsere Fragen geben lassen, berauben wir uns der eigenen Fähigkeit, Entscheidung selbst zu treffen. Das ist eine Einschränkung unserer Freiheit. 

 «Wie hast du geschlafen?» - 

«Moment, ich schaue auf der Apple Watch nach.»

 So langsam werden wir Vollzugorgane von Algorithmen. Wir werden zu Sklaven von Bots. 

Darum wird ein Handyverbot für Schulen in beinahe allen Schulpflegen diskutiert. 

 Am meisten ist die Unabhängigkeit dort gefährdet, wo wir gar nicht bemerken, wie wir manipuliert werden. 

Zum Beispiel in den multiple choice Verfahren, wo wir nur vorgegebene Antworten ankreuzeln können. 

Das verletzt die Freiheit und die Würde eines Menschen. 

Und es gefährdet die direkte Demokratie. Denn Demokratie erfordert Zeit und die Kraft zur eigenen, differenzierten Meinungsbildung. 

 Algorithmen sind eine Art Prothesen von Gehirnströmen. Der Mensch besteht aber nicht nur aus seinem Gehirn. Er hat auch ein Herz oder ein Bauchgefühl. Er hat auch Phantasie, Kreativität, Unterbewusstsein, ein Mitgefühl, Empathie.

Dies ist auch das Menschenbild unserer Bundesverfassung, wo es zum Beispiel heisst:

 «Frei ist nur, wer seine Freiheit gebraucht.»

oder

«Die Stärke des Volkes misst ich am Wohl der Schwachen.»

oder

«Jede Person nimmt Verantwortung für sich selbst wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei.»

 Auch Horgen weiss: Ohne Freiwilligenarbeit können viele der wichtigsten Gemeindearbeiten nicht erbracht werden. Das geht vom Schwingfest über die Abteilungen Kind und Familie, Alter und Gesundheit bis zur Organisation des heutigen 1. Augustes. 

 Digitalisierung kann dazu eine Hilfe sein. Aber sie ersetzt nicht  das Grundwasser unseres Zusammenhaltes. Dieses ist entstanden aus unserer Kultur, unseren Religionen, unserer Geschichte, die wir uns mit Tradition und Ritualen in Erinnerung rufen. 

 Das tun wir heute am 1. August. Er ist ein Ritual unserer direkten Demokratie. 

Zu ihm gehören nicht nur eine Rede, sondern auch die Nationalhymne,

auch die Lampions und das Feuerwerk und 

dass die Kinder ganz lange aufbleiben dürfen.